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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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wußte, daß er und nicht Gerald hätte sterben sollen. Gerald wäre stark, gerecht, kompetent, männlich gewesen. Sein Überleben jedoch war schändlich, die Tat eines Feiglings. Er verachtete sich für sein Überleben.
    Seine Mutter legte den Kopf an seine Schulter. Er atmete ihren Duft ein und fühlte sich einen Moment lang sicher.
    Â»Schon gut, schon gut«, sagte Lady Blythe leise und strich über sein Haar. »Armer Nicky. Armer, lieber Nicky.«
    Als der Vorarbeiter eintrat, um ihm zu erklären, daß er keine Männer für die Ernte auftreiben könne, saß Nicholas am Schreibtisch seines Vaters und schrieb Briefe.
    Â»Was meinen Sie damit, Carter – Sie können keine Männer auftreiben?«
    Der Vorarbeiter drehte die Stoffmütze in seinen Händen. »Ich hab alle Cottages abgeklappert, Sir«, wiederholte er eindringlich. »Sie behaupten, sie könnten nicht arbeiten.«
    Nicholas war verwirrt. »Aber die Gotobeds, die Dockerills, die Bentons … Sie haben doch immer für uns gearbeitet.«
    Â»Die Bentons sind nicht mehr in Drakesden, Sir«, antwortete der Vorarbeiter. Er sah zur Decke und wich Nicholas’ Blick aus.
    Nicholas starrte ihn an, dann fiel es ihm wieder ein. Die Bentons hatten in einem der Cottages auf Burnt Fen gewohnt. Er hatte Burnt Fen verkauft. Allmählich verstand er.
    Â» Können oder wollen sie nicht arbeiten?« fragte er langsam.
    Carter erwiderte nichts. Nicholas erinnerte sich, daß eines der Cottages einer Familie namens Carter gehört hatte. Der Familie der Schwester dieses Mannes … seiner Mutter …?Angst stieg in ihm auf. Er versuchte nachzudenken.
    Â»Wenn die Männer in Drakesden dumm genug sind, die Arbeit zu verweigern, dann müssen Sie eben in den Nachbardörfern fragen, Carter. In Prickwillow – oder in Soham.«
    Â»Das würde nichts bringen, Sir Nicholas. Die haben dort selbst Arbeit.«
    Nicholas schlug mit der Faust auf den Tisch. »Dann bieten Sie ihnen mehr Geld, Mann! Ich kann meine Ernte nicht auf den Feldern verrotten lassen. Es gibt für drei oder vier Wochen Arbeit da draußen, um Himmels willen! Leben denn alle in solchem Luxus, daß sie das ausschlagen können?«
    Nicholas’ Blick traf den des Vorarbeiters. Ihre Augen begegneten sich nur einen Moment lang, aber Nicholas entdeckte solchen Zorn, solche Ablehnung darin, daß ihm kalt vor Angst wurde und sein Magen sich verkrampfte. Als er den Mann entließ, kam ihm plötzlich ein Gedanke.
    Â»Carter. Einen Augenblick. Sagen Sie – steckt Daniel Gillory hinter der Sache?«
    Der Vorarbeiter antwortete nicht.
    Nicholas sagte ruhig: »Ich möchte es wissen, Carter. Die Wahrheit, wenn ich bitten darf. Wenn Ihnen Ihr Job lieb ist.«
    Carter wand sich vor Unbehagen. »Mr. Gillory hat vor ein paar Männern gesprochen, glaube ich. Vor einer Woche gab es eine Versammlung im Otter.«
    Als der Vorarbeiter den Raum verließ, dachte Nicholas, Mr . Gillory. Mr. Gillory war der ebenso ungebildete wie ungehobelte Sohn eines betrunkenen Schmieds, ein Lügner und Dieb, der ihm und Thomasine übel mitgespielt hatte. Dann blieb er einfach sitzen und starrte auf die abgenutzte Schreibtischplatte seines Vaters, bis es dunkel wurde und der Gong zum Abendessen rief.
    Daniel, Harry und eine Handvoll der anderen Dorfbewohner ernteten den Weizen, als Daniel merkte, daß das Wetter umschlagen würde. Als er die dicken, gelben Körner zwischen den Fingern zerrieb, hätte er das Getreide noch gern ein oder zwei Tage stehen lassen, aber beim Blick über die Fens sah er die schweren weißen Wolken, die am Horizont entlangzogen. Im Lauf des Tages wurden sie grau und kamen langsam näher.
    Es war nach Mitternacht, als sie aufhörten. Zum Schluß arbeiteten sie bei Laternenlicht und sammelten die letzten Garben ein. Während der Arbeit sah Daniel oft auf die angrenzenden Felder hinüber. Auch dort stand das Korn hoch und reif, aber keine Erntearbeiter gingen mit geschwungenen Sensen darüber. Er spürte eine zunehmende Erregung in sich aufsteigen, die ihn während der endlosen Stunden anfeuerte, einen Haß und Triumph, der sich wie Balsam auf die Bitterkeit und die müden Glieder legte.
    Der Regen setzte ein, als sie die letzte Plane über den geernteten Weizen spannten und wegen des heftigen Winds fest verzurrten. Als er allein nach Hause zurückkehrte,

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