Die geheimen Jahre
Sie, Joe â da spielt ein Kind auf dem Deich.«
Der Vorarbeiter kniff die Augen zusammen. »Sieht aus, als wärâs ein ganz kleines.«
Thomasine drückte aufs Gaspedal, und der Daimler nahm Geschwindigkeit auf. In den Fens kam es nicht selten vor, daà ein Kind im Deich ertrank. Und das Kind sah sehr klein aus, viel zu klein, um allein, ohne Aufsicht der Mutter oder älterer Geschwister, drauÃen zu spielen. Tatsächlich war es etwa in Williams Alter.
Die Räder des Daimlers wirbelten den Staub auf. Thomasines Blick schoà ständig zwischen der StraÃe und der kleinen, schwankenden Gestalt hin und her, die sich gefährlich nahe am Wasser befand. Sie kniff die Augen zusammen, um sich vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Der Dreikäsehoch schien einen weiÃen Matrosenanzug zu tragen. Wie William einen hatte. Doch die Kinder in Drakesden trugen abgelegte Schürzen oder grobe lange Wollstrümpfe und die gekürzten Hemden ihrer Väter ⦠Sie drückte den Fuà so energisch aufs Gas, daà der Wagen auf der unbefestigten StraÃe einen Moment lang ins Schleudern geriet.
»William« , flüsterte sie, und Joe Carter fluchte, als er fast aus seinem Sitz geschleudert wurde. Der Daimler schlitterte um eine Kurve, Thomasine machte einen Satz über die Tür hinaus und lieà den Motor laufen.
Sie schien nicht schnell genug rennen zu können. Auf seinen kleinen pummeligen Beinchen, zwischen den dicken Grasbüscheln des Walls keinen richtigen Halt findend, wackelte William den Deichrand entlang. Sie hatte Angst, seinen Namen zu rufen, damit er nicht erschrak, nicht ausrutschte und ins Wasser stürzte. Ihre Brust schmerzte, als sie auf allen vieren den steilen Hang hinaufkletterte. William drehte sich um, den Mund zu einem freudigen »O« geformt, und gerade als er gefährlich schwankte, warf sie sich nach vorn und fing ihn in ihren Armen auf.
Einen Moment lang kniete sie mit geschlossenen Augen auf dem spärlichen Gras des Deichkamms und drückte seinen kleinen warmen Körper an sich.
»Mama«, sagte William schlieÃlich, entwand sich ihr und zog sie am Haar.
»O William!« Erneut küÃte und umschlang sie ihn. Tränen standen in ihren Augen, als sie auf ihn hinabsah. »Was hast du denn getan? Wo ist Martha?«
Als sie sich aufgeregt umsah, entdeckte sie weiter unten am Deich Ettie mit einem Picknickkorb und ein Stück weit entfernt den Delage im Schatten eines Baums mit Nicholas daneben.
Ettie versuchte, den Korb ins Ruderboot zu stellen. Das winzige Boot schaukelte auf dem Wasser und drohte, ihr wegzuschwimmen. Zu einem anderen Zeitpunkt, dachte Thomasine erbost, hätte sie dies komisch gefunden: Ettie Taylor-Graves, in vollkommen unpassender Aufmachung mit einem perlenbesetzten Haarband um den Kopf, die versuchte, das Ruderboot der Blythes flottzumachen. Doch jetzt, in Anbetracht von Etties abwechselndem Fluchen und Kichern und der halbleeren Champagnerflasche, die neben ihr im Gras stand, fühlte sich Thomasine vor Zorn wie gelähmt.
Sie schaffte es jedoch, aufzustehen und mit William im Arm auf den Delage zuzugehen. Noch immer zitterte sie am ganzen Leib. Sie sah, womit Nicholas beschäftigt war: Er putzte den Wagen, wischte den Staub von dem glänzenden Lack und kratzte winzige Flecken von der Windschutzscheibe. Anfangs nahm er sie gar nicht wahr, und einen Moment lang brachte sie keinen Ton heraus.
SchlieÃlich sagte sie: »William hat auf dem Deich gespielt, Nicholas. Er hätte hineinstürzen können.«
Nicholas fuhr herum und lieà seinen Lappen fallen. »Thomasine!« Er sah vollkommen verwirrt aus. »William war bei Ettie â¦Â«
Plötzlich zeigte sich Angst in seinem Gesicht, aber diesmal spürte sie keinen Funken Mitleid mit ihm. »Er hätte ertrinken können«, stieà sie mit bebender Stimme hervor.
»Ist er in Ordnung?« Und als sie nicht antwortete: »Um Himmels willen, Thomasine â¦Â«
»Ihm gehtâs gut. Aber wenn ich nicht gerade vorbeigekommen wäre â¦Â« Erneut packte sie die Wut. »Was hast du denn getan, Nicholas? Warum hat niemand auf ihn geachtet? Wo ist Martha?«
Er wurde bleich. »Ettie wollte William zum Picknick mitnehmen. Im Boot. Sie mag William sehr gern.«
»Ettie könnte nicht mal auf einen Hund aufpassen, Nicholas, erst recht nicht auf ein Kind !«
Er zuckte zusammen und wandte
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