Die geheimen Jahre
sich ab. Dann hob er seinen Lappen wieder auf und begann, an der Windschutzscheibe zu kratzen. »Mücken«, murmelte er. »Auf der ganzen Windschutzscheibe.«
Sie stand da und beobachtete ihn. Plötzlich wurde ihr mit erschreckender Klarheit bewuÃt, daà dieser Zustand unhaltbar war, daà ihre Ehe keine Zukunft hatte. Daà sie nicht einfach so weitermachen und ihre trostlose Beziehung zu Nicholas ignorieren konnte. Daà ihr Glaube, sie könnte Nicholas helfen, Selbsttäuschung gewesen war. Sie konnte nichts für ihn tun. Zum erstenmal hatte Nicholasâ Krankheit nicht nur ihn selbst, sondern auch William in Gefahr gebracht.
»Du muÃt einen Arzt aufsuchen, Nick«, sagte sie. »Darf ich Dr. Lawrence für dich rufen?«
Er hielt mit dem Putzen inne und schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich habâs dir doch gesagt. Nein.«
Von hinten konnte Thomasine hören, daà Ettie Williams Namen rief. Sehr entschieden sagte sie: »Wenn du William noch einmal in Gefahr bringst, Nicholas, werde ich dich verlassen und ihn mitnehmen. Vergià das nicht.« Dann ging sie mit dem Kleinen im Arm zum Daimler zurück.
Den ganzen Sommer hindurch nagte der Schmerz in ihm weiter, der sich im Winter bei ihm festgesetzt hatte, und vergällte ihm jede Stunde. Mit Fays Launenhaftigkeit und mangelnder Rücksichtnahme wäre er vielleicht noch zurechtgekommen, aber die verspätete Einsicht, daà sie beide nicht das geringste gemeinsam hatten, lieà ihn in Einsamkeit und Verzweiflung versinken.
Die Ironie des Schicksals wollte es, daà es statt dessen mit seinem Schreiben voranging. Der Ruhm, auf den Harry Dockerill einmal scherzhaft angespielt hatte, war, wenn auch in bescheidenem Rahmen, tatsächlich eingetreten, und Daniel verdiente mit seinen Artikeln mehr als mit der Landwirtschaft. Er wurde gebeten, bei Versammlungen der Labour-Partei und des Bauernverbands zu sprechen. Als eine Reihe von Kleinbauern aus dem südlichen Deichland, die ebenfalls besorgt über den Zustand der Entwässerungsanlagen in den Fens waren, dafür plädierten, auf das Landwirtschaftsministerium Druck auszuüben, war es Daniel, der den entsprechenden Brief schrieb.
Doch er begriff, in welchen Teufelskreis er geraten war: Fay ärgerte sich, daà er ständig arbeitete, und sie konnte oder wollte nicht sparen. Nur wenn er härter arbeitete, konnte er für ihre Ausgaben aufkommen, doch wenn er keine Zeit für sie hatte, gab Fay aus Langeweile und Unzufriedenheit mehr aus. Wenn er nicht arbeitete, warf sie ihm ihren Mangel an Komfort und ihre geringe soziale Stellung vor.
Wenn er versuchte, ihr die Lage zu erklären, reagierte sie meistens gereizt. Aus Erklärungen wurden Vorwürfe, aus Gereiztheit Verdrossenheit. Vorwürfe verwandelten sich in Anschuldigungen und Verdrossenheit in Bosheit. Fay stürmte aus dem Haus und fuhr nach Ely, und Daniel verlegte sich auf etwas, was er sich geschworen hatte, nie zu tun: Er griff nach der Flasche, die er im Pub gekauft hatte, und goà sich ein Glas nach dem anderen ein. Wenn er trank, konnte er schlafen. Wenn er trank, konnte er einen Teil der angestauten Wut und des Elends vergessen.
Thomasine schrieb an Hilda und verabredete sich für den Samstag in Cambridge mit ihr. In einer kleinen Teestube auf der Kingâs Parade rührte sie in ihrer Teetasse und versuchte, die richtigen Worte zu finden.
Sie wollten sich nicht einstellen. So lange hatte sie ihre Unabhängigkeit hochgehalten, daà sie sich jetzt auÃerstande sah, einem Menschen, nicht einmal Hilda, einzugestehen, in welcher schier unlösbaren Lage sie sich befand.
Voller Mitgefühl nahm Hilda Thomasines Hand und sagte: »Du siehst müde aus, meine Liebe. Was für eine schwere Arbeit, ein Gut wie Drakesden Abbey zu führen.«
Sie schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. »Das ist es nicht. Mir gefällt meine Arbeit.«
»Ist es ⦠William?« fragte Hilda stirnrunzelnd. »Oder Lady Blythe �
»William gehtâs ganz gut. Und Lady Blythe und ich haben eine Art Waffenstillstand geschlossen, glaube ich. Jeder bleibt auf seinem Territorium.« Thomasine sah aus dem Fenster auf die herrliche Silhouette der Kingâs College Chapel hinaus. »Es ist Nicholas«, fügte sie schlieÃlich hinzu.
Hilda saà sehr aufrecht auf ihrem Stuhl und sah Thomasine an. »Ich glaube, sehr viele Ehen
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