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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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marschierte sie zum großen Deich hinaus, der den Zufluß der Lark begrenzte. Sie hob William aus dem Wagen und nahm ihn an die Hand, als sie gemeinsam die Böschung hinaufstiegen.
    Â»Wasser«, sagte William, deutete darauf und machte blubbernde Geräusche.
    Â»Wasser«, stimmte Thomasine abwesend zu und warf einen prüfenden Blick auf das Riedgras, das dicht am Rand wucherte, und auf das Unkraut und die Lilien, die den Fluß des Wassers behinderten. Als ihre Augen der geraden Linie des Deiches folgten, stellte sie fest, daß die Befestigung bröckelte, weil sie von Tieren unterhöhlt oder vom Wind erodiert war. Besorgt ließ sie den Blick nach Norden über die Felder streifen bis zur stolzen Silhouette der Kathedrale von Ely. Auf dieser Seite des Dorfes war das Land vollkommen flach. Sie wußte, was passieren würde, falls der Deich brechen sollte: Das Wasser würde im Umkreis von Meilen die Felder überschwemmen, Ernten, Häuser und Vieh vernichten.
    Als sie sich schließlich vom Deich abwandte, sah sie den Radfahrer, der über den zerfurchten Weg zum Dorf zurückfuhr. Sie erkannte Daniel Gillory sofort. Sie nahm William auf den Arm und kletterte die Böschung hinunter. Seit sechs Wochen hatte sie Daniel nicht mehr gesehen. Sie war sicher, daß es ihr gelungen war, alle Anziehungskraft, die er auf sie ausgeübt hatte, in sich zu ersticken. Sie winkte, als er näher kam.
    Als er schlitternd stoppte, spritzte nasse Erde von den verschmutzten Rädern auf.
    Â»Wie geht’s dir, Daniel?«
    Â»Mir geht’s gut.« Er zerzauste Williams dunkles Haar und ließ das Fahrrad ins Gras fallen. »Ich bin froh, daß wir uns treffen. Ich wollte mit dir reden.« Er runzelte die Stirn und hielt kurz inne. Dann sagte er: »Ich gehe aus Drakesden fort, Thomasine. Ich wollte mich verabschieden.«
    Sie drückte William ein bißchen fester an sich. Der Tag, der ihr hell und strahlend vorgekommen war, wurde eisig.
    Â»Wo gehst du hin, Daniel?«
    Â»Erst einmal nach London. Ich kann hier nicht bleiben. Alles erinnert mich an sie.«
    Sie nickte. »Natürlich.«
    Â»Ich habe ein bißchen geerbt. Eine Freundin, mit der ich in London eine Weile zusammengelebt habe, ist gestorben. Sie war Witwe – und hatte keine Kinder, verstehst du …« Seine Stimme brach. Noch immer konnte sie die Leere in seinen Augen sehen und die Anstrengung, die es ihn kostete, über die Zukunft nachzudenken.
    Â»Zu Beginn des Krieges hab ich ein paar Jahre mit Hattie in Bethnal Green verbracht. Sie hat mir Geld geliehen, um das Land hier zu kaufen. Hattie habe ich es zu verdanken, daß ich Fay heiraten und die Farm wieder in Gang bringen konnte. Sie war ein guter Mensch.« Daniel lächelte, aber das Lächeln erstarb abrupt wieder. Er stieß mit der Fußspitze in den morastigen Boden. »Aber als ich den Brief von ihrem Notar bekam, dachte ich: Warum nicht ein oder zwei Monate früher?«
    Seine Stimme klang rauh. William entwand sich Thomasines Armen, kauerte sich an den Wegrand und spielte mit Kieselsteinen.
    Leise sagte sie: »Ich verstehe nicht, Daniel.«
    Â»Nein. Warum auch? Nicholas bewahrt dich vor solchen Dingen. Geld , Thomasine – oder der Mangel daran. Ich habe mich gefragt, warum Hattie, die seit Jahren an schlimmer Tuberkulose litt, nicht ein paar Wochen früher sterben konnte. Für sie hätte es keinen großen Unterschied gemacht, oder? Für mich allerdings schon. Gott vergib mir, daß ich das gedacht habe, aber so war es.« Er sah zu Thomasine auf und zuckte die Achseln. »Ich konnte Fay nicht genügend bieten, verstehst du?«
    Sie sah William eine Weile zu, der Steine auftürmte und Grasbüschel und Gänseblümchen zwischen die Kiesel schob.
    Â»Was wirst du tun, Daniel?«
    Â»Ich gehe nach London. Heute morgen bekam ich einen Brief – der Daily Herald hat einen Artikel von mir angenommen. Ich muß Hatties Haushalt auflösen, und dann möchte ich reisen. Ich muß einfach weg.«
    Â»Und die Farm?«
    Â»Harry Dockerill kümmert sich um die Farm. Er kennt sich mit der Arbeit genauso gut aus wie ich. Hoffentlich hat er Freude daran – in spätestens zehn Jahren steht alles wieder unter Wasser.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ich wäre froh, wenn ich den Ort nie mehr sehen müßte. Aber ich sehe ein, daß das unmöglich ist.«
    Plötzlich kam

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