Die geheimen Jahre
dunkel, ihr Haar jedoch blond war.
Lally runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Die Tänzerin lieà den Schal fallen und enthüllte ein Chiffonleibchen. Langsam, wie im Traum, begann das Mädchen, die Knöpfe des Leibchens zu öffnen. Ihre schwarzumrandeten Augen sahen ausdruckslos in die Ferne. Das Leibchen fiel zu Boden, und die Tänzerin löste ihren Gesichtsschleier. Einige Männer im Publikum starrten sie mit gierigen Augen an, andere unterhielten sich desinteressiert weiter.
»Gib mir dein Opernglas, Simon«, sagte Lally.
Amüsiert reichte ihr Simon sein Opernglas. Lally richtete es auf die orientalische Tänzerin, um mit ihren kurzsichtigen Augen besser sehen zu können.
Simon sagte träge: »Nun, du überraschst mich, Liebling. Aber â über Geschmack läÃt sich nicht streiten.«
Sie war sich jetzt sicher. »Ich hab sie schon mal gesehen. In Paris.«
»In den Folies? Dann hat sie einen ziemlichen Abstieg hinter sich.«
Lally schüttelte den Kopf. »Nicht in den Folies. In einem Café am Montmartre. Es war im Juli â mein neunzehnter Geburtstag. Thomasine hat doch in einer Revue in Paris getanzt. Dieses Mädchen â¦Â«, Lally machte mit dem Kopf ein Zeichen in Richtung Bühne, »gehörte damals zu der Truppe.«
Lally umklammerte den Stiel ihres Glases. Simon murmelte: »Vorsicht, Liebling, du wirst es noch zerbrechen«, und nahm ihr das Glas aus der Hand.
Sie zischte: »Wir hatten soviel Spaà damals. Wir waren in Rom und in Monaco. Nur Nicky, ich und ein paar Freunde. Dann haben wir sie wiedergetroffen. Thomasine.«
Zuerst hatte ihr Thomasine Nicky und dann Daniel weggenommen. Der Drang, Thomasines heimliche Affäre mit Daniel Gillory publik zu machen, war fast übermächtig gewesen. Nur die Angst, die sie bei der Nachricht von Fay Gillorys Tod überkommen hatte, hatte sie schweigen lassen, weil sie ahnte, welches Chaos eine solche Enthüllung heraufbeschwören würde.
Tränen standen in Lallys Augen, ob aus Zorn oder aus Trauer, wuÃte sie nicht. Simon sagte: »Nimmâs nicht so tragisch, Liebling«, aber ein Anflug von Neugier war in seinem Gesicht ablesbar. »Wann haben sie geheiratet?«
»Einen Monat später. Sechs Wochen später. Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
Applaus brandete auf, als der Vorhang fiel. Simon sagte: »Ziemlich überstürzt, findest du nicht?«
»Wahrscheinlich schon.«
»Ich meine, hast du nicht gedacht �«
Sie sah ihn an. »Was meinst du, Simon?« fragte sie scharf und runzelte die Stirn. » Oh . Du meinst, sie muÃten heiraten?«
Er zuckte die Achseln. »Schon möglich. Wozu sonst die Eile? Dein Bruder ist schlieÃlich ein so konventioneller Bursche.«
In seiner Stimme schwang eine Spur von Spott mit. Lally ging nicht darauf ein, sondern starrte auf die leere Tanzfläche und dachte nach. »Nein«, antwortete sie schlieÃlich. »William wurde erst lange nach ihrer Heirat geboren.«
Ihrer Meinung nach war Nicholas als Jungfrau in die Ehe gegangen. Er schien sich unter attraktiven Frauen nie wohl zu fühlen und neigte eher dazu, sie zu vergöttern oder zu fürchten. Daà sich Nicky Frauen gegenüber ein biÃchen komisch verhielt, führte sie auf Mama zurück. Aber die hastige Heirat war seltsam gewesen und schien ganz und gar nicht zu ihm zu passen.
Williams Kinderwagen schiebend, ging Thomasine ins Dorf hinunter. Nicholas war am Morgen nach Cambridge gefahren, und sie muÃte mit Mrs. Dockerill ihre Pläne für die Instandsetzung der Arbeiter-Cottages besprechen.
William tunkte ein Stück Brotteig in eine graue SoÃe, während Thomasine und Flo Dockerill über Entwässerungsrohre, Feuchtigkeit und Ungeziefer redeten. Thomasine wuÃte, daà nur begrenzt geholfen werden konnte, bevor Drakesden Abbey finanziell wieder auf besseren FüÃen stand. Die meisten Probleme in den Häusern waren eine Folge des hohen Wasserspiegels, und nur mit groÃem Arbeitsaufwand lieÃe sich Drakesden davor bewahren, jedes Frühjahr überschwemmt zu werden. Im Moment fehlte einfach das Geld, um diese Arbeiten auszuführen. Und selbst wenn es vorhanden gewesen wäre, hätten vermutlich weder Nicholas noch Lady Blythe zugestimmt, es für etwas zu verwenden, das nicht direkt Drakesden Abbey zugute kam.
Nachdem sie Flo verlassen hatte,
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