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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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durch die schmutzigen Scheiben des Busses sah, war von einem zarten Blau, das nur der Rauch aus den Schloten trübte. Um halb sechs Uhr morgens, als der Himmel noch dunstig und purpurgrau war, waren sie eingefahren. Der Wechsel von eisiger Morgenkälte zu frühlingshaftem Sonnenlicht kam Daniel wunderbar vor.
    Sie sprachen wenig, bis sie gegessen hatten. Jems Frau, eine kleine, müde wirkende Person, die aber ordentlich gekleidet war, servierte ihnen Speck, Kohl und Kartoffeln. Daniel stellte fest, daß er einen Bärenhunger hatte.
    Â»Na, jetzt siehst du ja nicht mehr ganz so grün aus, Kumpel«, sagte Jem, als sie fertig waren.
    Daniel grinste entschuldigend. »Ich hoffte, es wäre unter dem Kohlenstaub nicht zu sehen.«
    Tee wurde eingeschenkt. Jem sagte: »Da muß sich keiner schämen. Manche sind an harte Arbeit gewöhnt, andere nicht.«
    Es war, als hätte man ihn geprüft und nicht für gut befunden. Daniel spürte einen unsinnigen Drang, sich zu rechtfertigen.
    Â»Bis vor zweieinhalb Jahren war ich Bauer. Und davor war ich in der Armee.«
    Jem ließ sich nicht beeindrucken. »Aber jetzt schreibst du Geschichten.«
    Daniel rührte Zucker in seinen Tee und gab sich damit zufrieden, daß man ihn für verweichlicht hielt. »Ich schreibe keine Geschichten. Ich schreibe über Dinge, die ich sehe. Ich habe über landwirtschaftliche Arbeit geschrieben – damit kenne ich mich aus. Während der letzten Jahre bin ich durch Europa gereist, um herauszufinden, ob man darin anderswo weiter ist. Aber jetzt schreibe ich einen Artikel über Bergarbeit.«
    Jems Frau stellte eine Schüssel mit heißem Wasser auf den Tisch. Auf dem Herd wurde weiteres Wasser erhitzt. Jem zog eine finstere Miene und tauchte seine Hände in die Schüssel.
    Â»Was meinst du?« fragte Daniel neugierig. »Wird es zum Streik kommen?«
    Â»Wart bis Freitag, Kumpel, dann weißt du’s. Es wird bloß kein Streik, sondern eine Aussperrung werden. Wenn die Bergarbeiter das Lohnangebot der Grubenbesitzer nicht annehmen, sperren sie uns aus.«
    Â»Die Grubenbesitzer haben noch kein Angebot gemacht, stimmt’s?«
    Jem schüttelte den Kopf. Mrs. Harris begann, seinen kohlegeschwärzten Rücken mit einem Tuch zu säubern. Daniel dachte an die Ereignisse des vergangenen Jahres. Im Sommer 1925, dem zweiten Sommer, den Daniel im Ausland verbrachte, gab der Verband der Zechenbesitzer, der landesweit mehr als tausend Firmen vertrat, bekannt, daß er beabsichtige, die bestehenden Vereinbarungen über Arbeitszeit und Löhne zu kündigen. Ein Untersuchungsausschuß war zusammengetreten und hatte Empfehlungen hinsichtlich der Löhne und der Neuorganisation der Bergwerke gemacht, hauptsächlich zugunsten der Bergarbeiter. Die Zechenbesitzer hatten die Vorschläge des Ausschusses zurückgewiesen. Aus dem Streit und aus der Verbitterung war die Situation entstanden, vor der die konservative Regierung sich immer gefürchtet hatte: daß die Transport- und Eisenbahngewerkschaften die Forderungen der Bergarbeiter übernähmen, falls sie von ihren Arbeitgebern aufgefordert würden, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Der konservative Premierminister Stanley Baldwin hatte die drohenden Schwierigkeiten damit umgangen, daß er für die Zeit von neun Monaten, in denen der Ausschuß tagte, den Bergarbeitern eine Unterstützung zahlte.
    Jem trocknete sich mit einem Handtuch ab. Daniel sagte: »Die Unterstützung wird Ende der Woche eingestellt, nicht wahr, Jem?«
    Â»Ja. Ende April.«
    Â»Also muß der Verband der Grubenbesitzer bis dahin sein Angebot machen?«
    Jem nickte und zog sich das Hemd über den Kopf. Das Wasser in der Schüssel vor ihm war schwarz vom Kohlenstaub. »Ich will dir was zeigen, Kumpel.«
    Â»Laß ihn sich doch erst mal waschen, Jem«, sagte Mrs. Harris.
    Â»Gleich, Frau, gleich.« Jem warf ein paar Papiere vor Daniel auf den Tisch. »Schreib darüber in deinen Artikeln.«
    Die Papiere waren Lohnstreifen. Daniel sah sich die Zahlen genau an. Die Summe, die dem Bergarbeiter wöchentlich ausbezahlt wurde, die Abzüge für das Schleifen seiner Werkzeuge, die Miete für die Grubenlampe, die Gewerkschaftsbeiträge.
    Â»Du kannst von Glück sagen, wenn zwei Pfund die Woche übrigbleiben«, sagte Daniel langsam.
    Jem kämmte sich das kurze, ergrauende Haar. »Ich

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