Die geheimen Jahre
arbeite nicht jede Woche, vergià das nicht. Im Sommer werden wir oft für einige Zeit ausgestellt.«
Jem hatte Frau und vier Kinder, das jüngste war gerade im Hinterhof und bewunderte Daniels Royal-Enfield-Motorrad. Daniel versuchte sich vorzustellen, eine sechsköpfige Familie von weniger als zwei Pfund pro Woche zu ernähren. In den Fens hatte er die Auswirkungen dieser Armut gesehen: Die ärmsten Landarbeiter waren im Gegensatz zu den Bergarbeitern vielleicht in der Lage, ihren Kindern frische Luft zu bieten, aber BarfuÃgehen, leere Mägen und Anfälligkeit für Krankheiten waren dort genauso an der Tagesordnung wie hier. »Und der Verband der Zechenbesitzer redet von einer Lohnkürzung von â¦?«
»Von bis zu siebenundzwanzig Prozent in manchen Orten. Mit Wohlfahrtshilfe wären die Männer besser dran!« sagte Jem verbittert.
Mrs. Harris stellte eine Schüssel mit sauberem Wasser vor Daniel. Er begann, sich den Kohlenstaub abzuwaschen.
»Den Grundeignern müssen Bergwerksabgaben gezahlt werden, nicht wahr? Und alle Zechen stehen in Wettbewerb miteinander.«
»Ganz recht. Yorkshire Main unterbietet Ashington, und die Manchester Collieries unterbieten Butterly und so fort. Und Lord Sowieso, dem das Land über meiner Zeche gehört, muà seinen Anteil am Profit kriegen.«
»Ich bin in Deutschland in einer Zeche gewesen, Jem. Da war es ganz anders. Dort wird eine Menge der schweren Arbeit von Maschinen erledigt â automatische Pickel und Kohlenschredder â, unterirdische Züge bringen die Bergleute zu ihren Arbeitsstellen. Kein Kriechen durch Tunnel, für das du â« Daniel sah auf den Lohnstreifen â »nichts bezahlt kriegst.«
Das Wasser vor Daniel war inzwischen schwarz. Trotzdem fühlte er sich immer noch schmutzig, als hätte sich der Kohlenstaub in seine Haut gefressen. Aber die kleine Küche, die eigentlich fünf Tage die Woche vor schwarzem Staub hätte starren sollen, war makellos sauber. Er konnte nur ahnen, wieviel Putzen und Schrubben dazu notwendig war.
Daniel stand auf und knöpfte sich das Hemd zu. »Also, was glaubst du, Jem? Kommt es zum Generalstreik?«
»Wir werden sehen, Kumpel, wir werden sehen.« Jem zuckte die Achseln, aber in seinen Augen stand ein entschlossener Ausdruck.
Daniel sah aus dem Fenster. »Ich dreh eine Runde auf dem Motorrad mit dem kleinen Jimmy, Mrs. Harris. Dann ist er für eine Weile aus dem Weg. Und danach lad ich dich auf ein Bier ein, Jem, wenn ich darf.«
In ihrer Mittagspause suchte Thomasine Mr. Gibson von Gibson, Paul und Gibson auf. Gibson, Paul und Gibson waren Anwälte, die auf Scheidungen spezialisiert waren. Nachdem sie in einem eleganten Vorraum unter den wachsamen Blicken einer hochnäsigen Sekretärin gewartet hatte, wurde sie in Mr. Gibsons Büro geführt.
»Ah, Lady Blythe.« Mr. Gibson, der groÃ, schlank und grauhaarig war und unter seinem StraÃenanzug ein Hemd mit ausgelegtem Kragen trug, streckte die Hand aus.
»Miss Thorne, wenn es Ihnen recht ist, Mr. Gibson. Ich habe nach meiner Scheidung wieder meinen Mädchennamen angenommen.«
»Ah.« Mr. Gibson nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und legte die Fingerspitzen aneinander. Das ist die Kirche, das ist der Turm, dachte Thomasine. Wie viele Male hatte sie diesen Reim William vorgesagt?
»Wie ich Ihnen schon am Telefon mitteilte, Miss Thorne, habe ich Ihren Brief gelesen.« Mr. Gibson deutete auf ein Blatt Papier, das vor ihm lag. »Ihre Lage ist nicht ganz â ähm â hoffnungslos. Aber es gibt einige Punkte, über die ich mir â ähm â nicht völlig im klaren bin.«
Sein Lächeln bestand aus einem Spannen der Muskeln um den Mund, aber seine Augen blieben kalt und desinteressiert. Thomasine holte tief Luft.
»In meinem Brief konnte ich nicht alles erklären. Es gab Dinge, die vor Gericht nicht zur Sprache kamen. Ich kann mich doch darauf verlassen, daà alles, was ich Ihnen sage, streng vertraulich bleibt?«
»Natürlich, Miss Thorne.«
Klar und emotionslos erzählte sie von Clive, ihrer ersten Schwangerschaft, ihrer Heirat mit Nicholas und der Fehlgeburt. Sie konnte in Mr. Gibsons Augen nicht den Abscheu erkennen, den sie bei einigen anderen Anwälten entdeckt hatte, nur nüchternes Interesse.
Als sie geendet hatte, schwieg er. SchlieÃlich ergriff er das
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