Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
fragen.
    Â»Etwa vierhundert Meter.«
    Daniel notierte sich die Zahl in seinem Notizbuch und versuchte, nicht darüber nachzudenken. Er sah sich um, und langsam gewöhnten sich seine Augen an das trübe Licht. Er stand in einer Art kleinen Kammer, die aus dem Felsen geschlagen war. Die meisten anderen Männer, mit denen er heruntergefahren war, waren bereits in den Gängen verschwunden, die von der Kammer abgingen. Nur Jem Harris blieb bei ihm.
    Â»Ist das der Ort, an dem du arbeitest?«
    Jems weiße Zähne blitzten in der Dunkelheit auf, als er grinste. »Nicht ganz. Wir müssen noch ein Stückchen gehen, Kumpel. Komm mit.« Er ging einen der Gänge hinunter.
    Nach etwa hundert Metern stellte Daniel fest, daß er nicht nur wegen seiner Klaustrophobie für die Arbeit im Bergwerk ungeeignet war, sondern auch wegen seiner Größe. Mit einem Gefühl der Demütigung spürte er, daß Jem, der zehn Jahre älter war als er, langsamer ging, um sich seinem Tempo anzupassen. Doch er konnte nicht schneller gehen, weil die Decke des Gangs ständig niedriger wurde. Mehrmals schlug er sich den Kopf an einem der Stützbalken an. In gewisser Hinsicht empfand er den physischen Schmerz als wohltuend, weil er seine Gedanken ablenkte. Vierhundert Meter unter Tage . Über ihm befand sich eine unschätzbare Masse von Steinen und Erde. Die Luft war heiß und staubig, aber er zwang sich, ruhig zu atmen. Während der gesamten Dauer von Jems Schicht würde er hier unten bleiben – sieben Stunden plus Fahrzeit. Er konnte es sich einfach nicht leisten, in Panik zu verfallen.
    Die Decke des Gangs wurde noch niedriger, und Daniel mußte seinen schmerzenden Rücken noch mehr krümmen, um sich vorwärts zu bewegen. Den Blick auf Jems Grubenlampe fixiert, dachte er an nichts anderes, als weiterzugehen, damit sich seine Muskeln in der unnatürlichen Haltung nicht verkrampften und er zu seiner Schande ohnmächtig würde. Als der Tunnel wegen eines alten Einsturzes eine Zeitlang höher wurde, war es die reinste Freude, einfach aufrecht zu stehen. Er vergaß, daß er sich vierhundert Meter unter der Erde befand, und genoß das Strecken der Glieder.
    Aber die Erleichterung war nur vorübergehend. Kurz darauf mußte er sich wieder zusammenkrümmen und etwa fünfzig Meter auf Händen und Füßen zurücklegen. Kohleund Schiefersplitter am Boden rissen ihm die Haut auf, aber es war besser, sich auf diese Art fortzubewegen als in der unbequemen Haltung eines Neandertalers. Als sie schließlich anhielten, vergaß Daniel allen Stolz und brach zitternd zusammen. Doch er zitterte nicht vor Angst, sondern vor Erschöpfung.
    Â»Wie weit noch …?« stieß er hervor.
    Â»Ach, das war erst ungefähr ’ne halbe Meile. Nicht so schlimm. Manche von den Männern müssen drei Meilen oder mehr zurücklegen.«
    Jem hatte bereits seinen Pickel ergriffen und begann zu arbeiten. Wegen der erstickenden Hitze trug er nur Kniehosen, Holzpantinen, Handschuhe und Knieschützer. Der Lärm, den der Pickel in dem engen Gang machte, war entsetzlich. Noch entsetzlicher fand Daniel die Tatsache, daß der Bergmann kniend arbeitete, so daß das Schwingen des Pickels nur mit der Kraft des Arms bewerkstelligt werden mußte. Daniel versuchte sich vorzustellen, ohne die Hilfe seiner Beine, mit denen er die Schaufel ins Erdreich trieb, Gräben auszuheben oder nur mit der Kraft seiner Arme und seines Rückens eine Mooreiche aus dem Boden zu ziehen. In all seinen siebenundzwanzig Lebensjahren hatte er sich körperlich noch nie schwach gefühlt, aber jetzt, als er die trollartige Gestalt, deren Schultermuskeln wie Stränge aus Ebenholz glänzten, Kohle aus dem Felsen schlagen sah, fühlte er sich kraftlos, ja verweichlicht. Vorsichtig und mit vor Erschöpfung noch immer zitternden Händen zog er Notizbuch und Stift aus der Innentasche seines Hemds.
    Als Daniel sieben Stunden später wieder an der frischen Luft war, überkam ihn ein berauschendes Gefühl der Freiheit. Gleichzeitig war er erleichtert, daß er acht Stunden unter Tage ausgehalten hatte, ohne sich allzusehr blamiert zu haben. Selbst die trostlose Landschaft von Leeds mit ihren Schlackebergen, dem Rauch und den Schloten sah einen Moment lang schön aus.
    Jems Haus in einer der Reihensiedlungen lag ein paar Busminuten von der Grube entfernt. Der Aprilhimmel, den man

Weitere Kostenlose Bücher