Die geheimen Jahre
Wort. »Es gibt wirklich nichts, was ich für Sie tun könnte, Miss Thorne. Rein gar nichts.«
Ihr Herz begann zu klopfen. Eigentlich wollte sie nie groÃe Hoffnungen in diese Anwaltsbesuche setzen, tat es aber doch immer wieder.
»Es muà doch irgendeine Möglichkeit geben, Mr. Gibson. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht in der Zukunft â¦Â«
»Miss Thorne.« Die zusammengelegten Händen spreizten sich zu einer resignierten Geste auf. »Sie haben erwogen ⦠ähm ⦠ein Kind abzutreiben, was natürlich illegal ist. Ein geschickter Anwalt könnte unterstellen, daà Sie dieses Kind tatsächlich abgetrieben haben. Er würde auch herausstellen, daà Sie einen ⦠ähm ⦠unmoralischen Lebenswandel geführt haben. Zudem würde jeder Richter aufgrund der Tatsache, daà Sie vorhatten ⦠ähm ⦠das Kind Ihres Liebhabers als das Ihres Ehemannes auszugeben, der Gegenseite zuneigen. Sie haben schlieÃlich in eine alte und angesehene Familie eingeheiratet. Es tut mir leid, Miss Thorne, aber es gibt wirklich nichts, was ich für Sie tun könnte. Ich fürchte, Sie müssen sich mit dem Verlust Ihres Sohnes abfinden.«
Er hatte sich erhoben. Auch Thomasine erhob sich. Trotz der frühlingshaften Wärme war ihr kalt. Der Anwalt öffnete ihr die Tür.
Als sie wieder in den Vorraum trat, sagte sie plötzlich: »Mr. Gibson, wenn Sie mir nicht helfen können, vielleicht könnten Sie mir jemanden empfehlen, der mir helfen kann. Ich kann mich mit dem Verlust Williams einfach nicht abfinden. Ich kann es einfach nicht.«
Der Anwalt sah sie an. Auch wenn sie keinen Abscheu in diesen Augen erkennen konnte, so doch zumindest Abneigung, dachte Thomasine.
Aber er antwortete: »Sie könnten es bei Sir Alfred Duke versuchen. Er hatte einige erstaunliche Erfolge mit ⦠ähm ⦠kitzeligen Fällen. An ihn könnten Sie sich wenden, schätze ich. Vorausgesetzt â« erneut die Grimasse eines Lächelns â »nächste Woche findet die Revolution nicht statt.«
Zuerst hatte sie keine Ahnung, was er meinte, und es war ihr auch egal. Aber als sie in das Kaufhaus zurückging, in dessen Buchhaltung arbeitete, fielen ihr die Schlagzeilen der Zeitungen auf: »Drohende Aussperrung der Bergarbeiter«, »Angst vor Generalstreik«. Sie eilte an den Zeitungsständen vorbei. Sie war spät dran.
Nachdem das Kaufhaus geschlossen hatte, ging sie nach Hause. Meist nahm sie die U-Bahn oder den Bus, aber heute wollte sie nachdenken. AuÃerdem war die Luft angenehm warm: Selbst in London schien es endlich Frühling zu werden. Beim Gehen versuchte sie, sich zu erinnern, wieviel sie gespart hatte. Sie weigerte sich zu glauben, daà sie ihr hartverdientes Geld schon wieder für nichts ausgeben sollte. »Sir Alfred Duke«, sagte sie laut vor sich hin und ignorierte die Blicke der Passanten. Der Name hörte sich ehrlich, verläÃlich, beeindruckend an. Sicher wäre Sir Alfred Duke in der Lage, ihr zu helfen.
Es war fast acht Uhr, als sie ihre Wohnung erreichte. Nach ein paar Monaten in Camden Town war sie in eine bessere Wohnung umgezogen. Das erste schreckliche Zimmer war nicht einmal groà genug gewesen, um ihre Kleider und anderen Habseligkeiten unterzubringen. Sie hatte die Garderobe einer Herzogin, dachte sie mit Blick auf die Kisten, die aus Drakesden geschickt worden waren, und die Unterkunft einer Fabrikarbeiterin. Die meisten der Pelze hatte sie verkauft, die Abendkleider jedoch behalten. Die hingen jetzt in braunes Papier gehüllt und mit Mottenkugeln versehen in ihrem Schrank, wie Relikte aus einem anderen Leben. Manchmal, wenn sie die Erinnerung an dieses andere Leben brauchte, öffnete sie den Schrank und atmete den Duft der Seiden- und Samtroben ein.
Auf der StraÃe vor ihrem Mietshaus herrschte geschäftiges Treiben. Hausfrauen standen in den Eingängen und schwatzten miteinander, Kinder spielten Himmel-und-Hölle, und Männer in Hemdsärmeln und mit Stoffmützen auf dem Kopf standen vor dem Pub. Ein junger Mann mit einem Motorrad wartete vor ihrem Haus. Die Abendsonne glänzte auf seinem flachsfarbenen Haar.
Wie immer bei Daniels unregelmäÃigen Besuchen spürte Thomasine eine Mischung aus Ãrger und Freude. Freude, weil er immer ein guter Gesellschafter war, Ãrger, weil er stets erwartete, daà sie alles liegen- und stehenlieà und
Weitere Kostenlose Bücher