Die geheimen Jahre
Hause.« Schnell fügte sie hinzu: »Ich bin müde, das ist alles. Und es ist deine Party â du solltest bleiben.«
»Mir reichtâs, Thomasine. Was für ein Haufen von Schwachköpfen und Ignoranten.«
»Miss Millford hielt dich für ziemlich umwerfend «, erwiderte sie spöttisch.
»Gütiger Gott.« Die StraÃenlaterne warf Schatten auf sein Gesicht und lieà seine Augen und sein Haar aufleuchten. Er hatte die Smokingjacke abgelegt, und seine Krawattenschleife hing schief. Du hast nicht zu diesen Leuten gepaÃt, dachte Thomasine, und ich auch nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich noch nie zu ihnen gepaÃt.
»Du könntest auf einen Drink mit in meine Wohnung kommen«, sagte Daniel. »Es ist nicht weit von hier.«
Seine Worte klangen beiläufig, der Ausdruck in seinen Augen sprach eine andere Sprache. Heute abend hatte sie ihn mit den Augen einer anderen Frau gesehen, und dieses flüchtige Bild hatte sich in ihr festgesetzt. Einen kurzen Moment lang stellte sie sich vor, Daniel so zu lieben, wie sie einst Clive und Nicholas geliebt hatte. Sie glaubte nicht, jemals einem Mann wieder so vertrauen zu können. AuÃerdem hatte sie keine Zeit für die Liebe: Der Versuch, ihren Sohn zurückzubekommen, verschlang all ihre Kraft und Energie. Sie liebte ihre Arbeit und war stolz auf ihren Erfolg und ihre Unabhängigkeit. Kein Mann war es wert, all das aufs Spiel zu setzen, was sie erreicht hatte.
»Ich glaube, lieber nicht«, sagte sie leichthin. »Es ist schon sehr spät. Wenn du mir ein Taxi besorgen könntest?«
Als sie am Dienstag morgen aufwachte, um zur Arbeit zu gehen, dachte sie einen Moment lang, sie sei in Drakesden. Sie hörte die Vögel singen. Sie blieb liegen und rieb sich die Augen. Ihre Uhr zeigte halb sieben â aber irgendwas stimmte nicht, irgendwas war anders.
Sie stellte fest, daà sie die Vögel hören konnte, weil es keinen Verkehr gab. Schnell zog sie sich einen Pullover übers Nachthemd, ging zum Fenster und schob den Vorhang zurück.
Weder Busse noch Lastwagen waren zu sehen. Nur ein paar Leute gingen auf dem Trottoir und gelegentlich fuhr mitten auf der StraÃe ein Fahrrad vorbei. Jetzt ist es also passiert, dachte sie ein wenig erschrocken, blieb aber am Fenster stehen, um den friedlichen Sonnenschein zu genieÃen.
Am Morgen des vierten Mai befanden sich in ganz GroÃbritannien etwa zwei Millionen Arbeiter im Streik. Transportarbeiter, Dockarbeiter, Eisen- und Stahlarbeiter, Drucker, Maurer â alle waren von ihren Gewerkschaften zum Streik aufgerufen worden. Die etwa eine Million Mitglieder der britischen Bergarbeitergewerkschaft waren seit Freitag abend aus ihren Zechen ausgesperrt.
Die Regierung eröffnete Rekrutierungsstellen für Freiwillige. Spezielle Hilfskräfte wurden eingestellt, um die Polizei zu unterstützen. Obwohl einige Kabinettsmitglieder die Truppen zum Einsatz bringen wollten, war den Besonneneren klar, daà der Anblick bewaffneter, durch die StraÃen marschierender Soldaten die ohnehin schon angespannte Lage zum Ãberkochen bringen könnte. Die Reaktion auf den Streikaufruf war überwältigend. Die Druckmaschinen der Londoner Presse standen still, als die Drucker ihre Arbeit einstellten, und ganz London kam langsam zum Erliegen, da keine U-Bahnen, StraÃenbahnen und Busse mehr fuhren. Privatwagen verstopften die StraÃen und kamen nur im Schneckentempo vorwärts. Man bewegte sich wieder wie in früheren Jahrhunderten fort â zu FuÃ, auf dem Fahrrad, auf dem Rücken von Pferden.
Von Dr. David Franksâ Büro sah man auf den Hyde Park hinaus. Aus dem Fenster im zweiten Stock des Gebäudes beobachtete Sir Nicholas Blythe die scheinbar endlose Schlange von Lastwagen, berittener Polizei und gepanzerten Wagen, die sich langsam auf den Park zubewegte.
»Heute früh um halb fünf sind sie in Richtung der Docks aufgebrochen. Hundertsiebzig Lastwagen«, sagte Dr. Franks. »Mein Nachbar nebenan hat sie gezählt.«
Nicholas warf einen Blick auf seine Ausgabe der British Gazette . »Winston Churchill behauptet hier, daà es noch viel schlimmer werden würde: âºDie Führer der Eisenbahnund Transportgewerkschaften gaben Befehl, alles Menschenmögliche zu tun, um die Lebensmittel- und Gebrauchsgüterlieferungen zu verhindernâ¹Â«, las er vor.
»Beunruhigt Sie das?«
Nicholas hatte sich
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