Die geheimen Jahre
übergewichtig und einer der wenigen Leute, die Daniel das Gefühl gaben, makellos gekleidet zu sein.
»Ich dachte nicht, daà so viele Leute hier wären.«
Harold warf einen Blick über die Menge. »Die meisten von ihnen sind Freunde von Paul. Paul Penhaligon, Sie wissen schon, der Dichter. Anfang der Woche habe ich seine zweite Gedichtsammlung herausgebracht. Ein schmales Bändchen.«
Ein Diener brachte Champagnergläser und Tabletts mit Kanapees. Daniel und Thomasine griffen zu.
»Ich würde Sie gern unserem Dichter vorstellen, mein Lieber«, sagte Harold. »Ein ziemlicher Gegensatz. Ich konnte einfach nicht anders und muÃte euch beide in der gleichen Woche herausbringen.«
Anfangs konnte sie sich kaum erinnern, wann sie zum letztenmal auf einer Party gewesen war. Williams Taufe, dachte Thomasine gequält und kippte ein weiteres Glas Champagner. Oder irgendeine der schrecklichen Weihnachtsfeiern auf Drakesden Abbey.
Sie schlenderte durch den Raum, zwischen den Gästen hindurch. Mit den entfernt bekannten Gesichtern konnte sie keine Namen verbinden: Sie muÃte ihnen schon begegnet sein, dachte sie, vor langer Zeit, in einem Seebad oder auf einem Kostümfest. Seltsam, daà ein Teil ihres Lebens so zusammengeschrumpft war, daà eine Ãra, die jahrelang gedauert hatte, in ihrer Erinnerung kaum eine Woche einzunehmen schien.
Sie stand am Rand einer Gruppe, die sich über Literatur unterhielt: zwei gutgekleidete junge Männer von etwa fünfunddreiÃig, eine dunkelblonde Frau und eine ältere Dame mit einem Federturban.
»Paul hofft, eine Vierteljahresschrift herauszubringen. Hervorragende Lyrik, ein paar Holzschnitte, in dieser Art.«
»Ich werde ihn zu einem meiner Jours fixes einladen.« Die Dame mit dem Turban steckte eine Zigarette in die Spitze. »Ich kann ihn mit allen möglichen nützlichen Leuten bekannt machen.«
»Schreiben Sie, Miss â¦Â«
Thomasine schüttelte den Kopf. »Miss Thorne. Leider nur Briefe und Einkaufslisten. Und Rechnungsbücher.«
»Wie ungewöhnlich.« Die Blondine starrte sie an. »Ich hab mit Zahlen noch nie umgehen können. »Du, Leo?«
»Nur mit Tantiemenschecks, Anthea.« Einer der Herrn gab der Dame mit dem Turban Feuer.
Die Blondine stieà ein melodisches Lachen aus. »Hör zu, Leo, das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen: Wer ist dieser einfach umwerfende junge Mann?«
Thomasine folgte Antheas Blick über die schönen jungen Frauen und eleganten jungen Männer hinweg zur hinteren Ecke des Raums. Zu Daniel, dessen Haar vom Fahrtwind noch zerzaust war und dessen Smokingjacke bereits zerknittert aussah.
»Göttlich« , hauchte Anthea. In ihren Augen stand ein gieriger Ausdruck.
»Sein Name ist Daniel Gillory.« Thomasine nahm ein weiteres Glas Champagner von der Bedienung entgegen. »Er hat Die Schwarze Erde geschrieben.«
»Sie kennen ihn?« Die kleinen scharfen Augen sahen sie neugierig an.
»Er ist ein alter Freund von mir. Wir kennen uns seit unserer Kindheit.«
»Göttlich.«
»Ich hab einen kurzen Blick in das Buch geworfen.« Leo gähnte. »Sehr eigentümlich. Ganz und gar nicht Harolds übliche Themen.«
»Die Schwarze Erde« , sagte der andere Herr sinnierend. »Lawrence-artig, vermute ich?«
Leo schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ländliche Armut, in irgendeinem schrecklichen Sumpf in East Anglia angesiedelt.«
»à la Mary Webb? Unverständlicher Dialekt und unaussprechliche Leidenschaften?
Kurzes Auflachen. Thomasine warf ein: »Es ist kein Roman, sondern die Beschreibung der Lebenswirklichkeit in einem ziemlich vergessenen Teil von England. Und Daniel schreibt sehr klar und präzise.« Sie versuchte nicht, ihren Ãrger zu verbergen. Alle drei starrten sie an, aber das war ihr egal.
»Hört sich wundervoll an. Sie müssen mich ihm vorstellen.« Wieder sah Anthea Thomasine an. »Ich bin sicher, ich bin Ihnen schon einmal begegnet. Ich weià bloà nicht mehr â¦Â«
Im Raum war es heià und stickig geworden. Daniel rià eines der Fenster weit auf und sah demonstrativ auf seine Uhr.
»Ich werde eine StraÃenbahn fahren«, sagte jemand. »Ich hab mich vor Ewigkeiten beim Freiwilligenkorps verpflichtet. Sicherlich bin ein schrecklich guter StraÃenbahnfahrer.«
Das Korps zur Aufrechterhaltung der Güterversorgung war
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