Die geheimen Jahre
rief sie ihm nach, aber er war bereits um die Ecke verschwunden. Thomasine nahm ihren Korb und sperrte die Haustür auf.
Es war seltsam, ein Kleid für die Party auszusuchen, dachte sie, als blättere man ein altes Tagebuch durch: das Chiffonkleid mit den Pailletten, das sie bei der Party in Mayfair getragen hatte, als der Stein durchs Fenster geworfen wurde, das ärmellose Samtkleid, das sie bei dem Picknick im New Forest anhatte. Das pistaziengrüne Seidenkleid, in dem sie die Gäste bei Williams Taufe empfangen hatte, und das kornblumenblaue, in dem sie den Ausflug in die Boheme gemacht hatte. Das Fortuny-Kleid, in dem sie geheiratet hatte, ein Traum aus meergrünem Plissee. Beim Vormundschaftsgericht, bei der Scheidung und vor dem Obersten Gerichtshof hatte sie einen Mantel mit hohem Kragen und einen tief in die Stirn gezogenen Hut getragen. Als wollte sie sich unsichtbar machen.
Sie steckte das Fortuny-Kleid in die braune Hülle zurück und nahm ein Chiffonkleid heraus. Es war blaà aprikosenfarben mit zartem, buntem Blumenmuster und langem, flieÃendem Rock. Es war schon immer eines ihres Lieblingskleider gewesen und ihrer Meinung nach eines der wenigen, das einer Rothaarigen wirklich stand. Als sie hineinschlüpfte, fühlte sie sich einen Moment lang jung, frei und abenteuerlustig, als wäre alles möglich. So hatte sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Der Chiffon mit den aufgenähten silbernen Perlen schmiegte sich an ihre Hüften und unterstrich ihre schlanke Figur.
Sie hatte gerade noch Zeit, im Spiegel schnell ihr Gesicht zu kontrollieren, als Mrs. Price nach oben rief: »Miss Thorne! Da ist ein Herr für Sie!« Dann griff sie ihren Schal und ihre Tasche und verlieà das Zimmer. Daniel wartete vor dem Haus. Seine Augen leuchteten auf, als sie aus der Tür trat.
»Umwerfend. Was für ein unglaublicher Stoff â wie Seidengespinst. Aber du brauchst eine Jacke.«
Thomasine seufzte auf. Sie hatte das verdammte Motorrad vergessen. »Ich schling den Schal um mich. Ich kann doch nicht mit einer Wolljacke über dem Chiffonkleid auf eine schicke Party gehen.«
Am Ende zog sie Daniels Smokingjacke darüber und stopfte den Seidenschal in ihre Tasche. Die Fahrt zu dem Haus in Bloomsbury war schnell, belebend und wenig vornehm. Der Saum des Chiffonkleids hing gefährlich nahe an den Rädern und muÃte hochgeknüpft werden. Meine Strümpfe, dachte Thomasine, als sie um die Ecken brausten und durch enge Gassen fuhren. Doch sie fühlte sich sicher. Daniel fuhr nie schneller, als die Verhältnisse es erlaubten.
»Das war der leichte Teil«, sagte Daniel, als sie vor einem groÃen, weiÃgestrichenen Haus anhielten. »Sitz still. Ich entwirre das Durcheinander.«
Der Saum des Kleids wurde glattgestrichen, die Smokingjacke seinem rechtmäÃigen Besitzer zurückgegeben. Zweifelnd rückte Thomasine sein Revers zurecht. »Du siehst ⦠ich weià nicht ⦠ist das für dich geschneidert worden, Daniel?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habâs mir geliehen. Sehe ich passabel aus?« Sie bemerkte, daà er nervös war.
Thomasine lächelte und küÃte ihn auf die Wange. »Natürlich tust du das. AuÃerordentlich passabel.«
Der Salon war überfüllt. Daniel blieb in der Tür stehen, murmelte: »Mein Gott« , zog den Kopf ein und stürzte sich ins Gewühl. Wie das Eintauchen in einen Mühlteich, dachte er. Oder zur Attacke überzugehen, auÃer daà er kein Bajonett in der Hand hielt, sondern Thomasine sich bei ihm eingehängt hatte.
»Hallo, mein Lieber.«
Daniel drehte sich um und sah Harold Markham, seinen Verleger. Markham Books war ein kleiner, angesehener Verlag, der seine Bücher sorgfältig auswählte und in schöner Ausstattung herausbrachte. Er hätte Glück, dachte Daniel, wenn sich von der Schwarzen Erde fünfhundert Exemplare verkauften. Markham Books überlebte nur, weil Harold Markham ein groÃes Privatvermögen besaÃ.
»Harold.« Daniel streckte die Hand aus. »Wir dachten schon, wir hätten Sie verloren, mein Lieber, weil Sie sich mit Signor Mussolini auf Streitereien eingelassen haben.«
Daniel grinste. »Ich komme nur eine halbe Stunde zu spät. Oh â Harold, das ist Miss Thorne, eine Freundin von mir.«
Harold strahlte Thomasine an und küÃte ihr die Hand. Harold Markham war vierzig,
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