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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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gemacht, was schief gelaufen war. Ich hatte nicht bemerkt, daß sie immer noch so empfand. Aber nach meiner Krankheit habe ich klar gesehen – und ich empfinde Mama gegenüber nicht mehr so wie früher. Ich kann es einfach nicht mehr.«
    Wieder trat Schweigen ein. Dann fuhr Nicholas fort: »Ich habe mich immer gefragt, warum Thomasine mich geheiratet hat. Für mich war das vollkommen unverständlich. Wie ein Wunder. Als Thomasine mich verließ … und Mama mir sagte, sie wolle die Scheidung … hat mich das nicht überrascht.«
    Neben Nicholas’ Stuhl stand eine Reihe von Papiertüten. Er griff in eine und zog ein Buch heraus. »Eine ziemlich erstaunliche Sache. Daniel Gillory hat das geschrieben. Sie erinnern sich, ich habe Ihnen von ihm erzählt, David. Wollte mal einen Blick reinwerfen. Ich hab den Typen immer gehaßt, aber jetzt …« Er zuckte die Achseln und sah zu David auf. »Eigentlich fühle ich überhaupt nicht mehr viel. All das …« Er machte eine Geste in Richtung Fenster, deutete auf die Streikenden und die Soldaten draußen. »Ich bin bloß ein Beobachter. Es berührt mich nicht. Hat nichts mit mir zu tun.«
    David erwiderte vorsichtig: »Das ist ein Symptom Ihrer Depression, Nicholas. Das heißt nicht, daß Sie nicht in Zukunft Gefühle haben – oder die Erfahrung von Glück machen können.«
    Nicholas erhob sich und ging zum Fenster zurück. Deutlich konnte er die dunklen, gedrungenen Umrisse der Panzerwagen und die berittenen Spezialeinheiten mit ihren weißen Helmen und Schlagstöcken erkennen.
    Â»Ich suche nicht nach Glück. Das hat mir vermutlich der Krieg ausgetrieben.«
    Doch weder verschwamm der Hyde Park vor seinen Blicken und verwandelte sich in die Schlammfelder an der Somme, noch hörten sich die Jubelrufe der Menge wie die Todesschreie seiner Kameraden an. Seit eineinhalb Jahren litt er nicht mehr unter Tagträumen. Das verdankte er David.
    Â»Wir sollten über den Krieg sprechen, Nicholas. Sie sollten öfter zu mir kommen – mindestens einmal alle zwei Wochen, am besten wöchentlich. Werden Sie das tun?«
    Nicholas lächelte. »Das kann ich mir nicht leisten, alter Junge. Ich verscherbele bereits das Familiensilber.«
    Â»Dann werden wir eben in unseren monatlichen Sitzungen um so größere Fortschritte machen. Bis Juni dann, Nicholas.« David Franks streckte die Hand aus.
    Unfähig, die Einsamkeit ihres Zimmers zu ertragen, spazierte Thomasine am Sonntag durch die Straßen. Obwohl der Streik die Stadtlandschaft von London verändert hatte und die Straßen mit Streikposten und Polizei angefüllt waren, erschienen ihr die Ereignisse der letzten Woche viel weniger wichtig als die des vergangenen Tages. Daß sie William ins Naturgeschichtliche Museum geführt, ihm zum erstenmal die Fossilien der Saurier gezeigt und sich dann von ihm getrennt hatte, war das einzige, was zählte.
    Das Wasser unter der Camden Lock Bridge glitzerte im Sonnenlicht und reflektierte die buntgestrichenen Boote und Kähne. Thomasine schritt schnell aus, von Camden weg, aber in keine bestimmte Richtung, und versuchte, die Gefühle von Ärger und Verlassenheit zu vertreiben, die stets den gemeinsamen Nachmittagen mit ihrem Sohn folgten.
    Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, als sie um eine Ecke bog und die Menge sah, die sich auf der Straße vor einem Fabriktor versammelt hatte. Die Streikenden trugen Fahnen und Plakate und skandierten den Spruch, der während der vergangenen Woche durch ganz London gehallt war: »Keinen Penny weg vom Lohn, keine Stunde mehr an Fron!« Der Sprechgesang verwandelte sich plötzlich in Wutgeheul, als ein Bus um die Ecke bog und auf die Menge zusteuerte. Thomasine sah, daß der Fahrer von zwei Mitgliedern der Spezialeinheiten begleitet wurde. »Streikbrecher!« rief jemand. »Verdammter Streikbrecher!« Die Menge stimmte in den Ruf ein. Als die Leute versuchten, dem Bus auszuweichen, scherte er plötzlich aus, fuhr auf den Gehsteig, und das Gebrüll der Menge verdichtete sich zu einem einzigen lauten Schrei. Kaum einen halben Meter vor den Schaufenstern entlang der Straße kam der Bus quietschend zum Stehen. Leute, die von der in Panik geratenen Menge niedergetrampelt worden waren, versuchten, sich wieder hochzurappeln. Thomasine half einer Frau auf die Beine. Sie war alt, mager und gebrechlich, und

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