Die geheimen Jahre
an ihrem Ellbogen, mit dem sie auf die Pflastersteine geschlagen war, klaffte ein Rià in ihrer Jacke.
Ein dumpfes, metallenes Geräusch kündigte an, daà der erste Stein die Kühlerhaube des Omnibusses getroffen hatte. Thomasine warf einen kurzen Blick auf den Fahrer, einen jungen Mann in einem Fair-Isle-Pullover und einer Golfmütze. Als sie Hufgetrappel hinter sich hörte, drehte sie sich um und sah die StraÃe hinauf.
Eine Reihe der Spezialeinheiten ritt auf sie zu. Mit ihren Schlagstöcken droschen sie wahllos auf die Menge ein. Eine junge Frau brach mit einem roten Striemen im Gesicht auf der StraÃe zusammen, ein alter Mann wurde von den Pferdehufen niedergetrampelt. Thomasine erkannte plötzlich, daà sie in der Falle saÃ. Auf der einen Seite befanden sich die Spezialeinheiten, auf der anderen der Bus. Geschosse wirbelten durch die Luft â Ziegel, Steine, Flaschen aus den Abfallkübeln vor dem nahe gelegenen Pub. Als eine der Flaschen kurz vor ihren FüÃen am Boden zerschellte, begann Thomasine, sich in Richtung des eingekeilten Busses voranzudrängen, weg von der Polizei.
Die Menge war eine feste Masse geworden, die sie wahllos in die eine oder andere Richtung schob. Sie lief Gefahr, in dem wütenden Gerangel der rachedurstigen Menschen unterzugehen. Ellbogen stieÃen sie an, ein Hagel von Steinen ging um sie nieder. Sie hatte Angst, zu Fall zu kommen und niedergetrampelt zu werden. Sie fürchtete sich, festgenommen und ins Gefängnis geworfen zu werden. Mit Blick nach hinten auf die Spezialeinheiten konnte sie sehen, daà die Festnahmen genauso willkürlich waren wie die Schläge.
Als sie sich zwischen die Kühlerhaube des Busses und die Mauer zwängte, sah sie einen Moment lang das entsetzte Gesicht des Fahrers. Sie hatte einmal einen Hasen gesehen, der von Sir William Blythes Hunden in die Enge getrieben worden war, und der Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes erinnerte sie an den des Tieres: starr, verängstigt, von einer Ãbermacht in die Enge getrieben. Mit aller Kraft drängte sie sich vorbei und schob sich durch die Menschenmenge. Ein Ellbogen stieà ihr so in den Magen, daà sie nach Luft ringen muÃte und ihre Knie weich wurden. Als sie eine vertraute Stimme ihren Namen rufen hörte, glaubte sie einen Moment lang zu träumen.
Doch dann entdeckte sie Daniel. Mühsam bahnte sie sich einen Weg durch die Menschen und hielt den Blick auf das Motorrad gerichtet, während Daniel einen Kreis fuhr und langsam auf sie zukam. Wundersamerweise teilte sich die Menge und lieà ihn durch.
Er verschwendete keine Zeit mit Worten, sondern hieà sie nur aufsteigen. Sie kletterte auf den Rücksitz, und gemeinsam fuhren sie von der aufgebrachten Menge weg.
Sie schlang die Arme um seine Taille, schloà die Augen und legte den Kopf an seinen Rücken. Das Geschrei der Menschenmenge verlor sich rasch in der Ferne, und es gab nur noch sie und Daniel. Es dauerte lange, bis sie aufsah und ihre Umgebung wahrnahm. Doch als sie den Kopf hob, entdeckte sie, daà sie durch die nördlichen Vororte aus London hinausfuhren.
»Wo sind wir?« Sie muÃte schreien, damit er sie verstand.
Das Motorrad kam langsam zum Stehen, Daniel drehte sich zu ihr um und sagte: »Walthamstow.«
»Walthamstow? Warum?«
Daniel deutete auf die Taschen, die seitlich am Motorrad angebracht waren. »Ich hab ein paar Briefe abzuliefern. Ich hab die ganze Woche als Kurier für den Gewerkschaftskongreà am Eccleston Square gearbeitet.«
Erst jetzt bemerkte sie die Aufschrift »Gewerkschaftskongreë, die auf einer Seite des Motorrads angebracht war. Das war natürlich der Grund, weshalb ihn die Menge durchgelassen hatte.
»Was zum Teufel hast du dort gemacht?« fragte er plötzlich.
Sie bemerkte, daà er wütend war, und stieg ab. »Ich bin spazierengegangen«, antwortete Thomasine störrisch. »Sonntags gehe ich immer spazieren.« Sie funkelte ihn ebenfalls an.
»Um Himmels willen. Du hättest getötet werden können.«
Tausend Antworten lagen ihr auf der Zunge, aber sie hielt sich zurück. Gerade erst hatte sie erfahren, wozu Haà und Dummheit fähig sind. Sie fühlte sich in einen entsetzlichen Mahlstrom hineingezogen, wo sie kein Individuum mehr war, sondern Teil eines riesigen bewuÃtlosen Monsters.
»Es war schrecklich«, sagte sie mit gedrückter Stimme. »Die
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