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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Schließlich begriff er, daß er Daniel von seiner Selbstverstümmelung, die ihn vor der Front gerettet hatte, genau deswegen erzählen konnte, weil Daniel Gillory andere Maßstäbe besaß. Gerade diejenigen Faktoren, für die Nicholas Daniel immer verachtet hatte – sein Mangel an Bildung, Herkunft und Tradition –, hatten Daniel zu sagen erlaubt: »Es spielt keine Rolle.« Diese Worte hatten für Nicholas wie Vergebung geklungen.
    Sowohl wegen der Unterschiede wie wegen der Ähnlichkeiten zwischen ihnen war es ihm möglich gewesen, mit Daniel zu sprechen. Daniel teilte die Erfahrung des Krieges mit ihm, genauso wie er selbst hatte er mit den unsichtbaren Wunden leben müssen, die der Krieg ihnen beigebracht hatte. Auch er hatte an wiederkehrenden Alpträumen gelitten, der Angst, in eine unerträgliche Vergangenheit zurückgestoßen zu werden. Auch ihm war es nicht gelungen, in der zivilen Gesellschaft zu funktionieren. Er hatte Nicholas erklärt, daß in jenen Jahren das bloße Überleben heldenhaft war. Auch wenn er das nicht ganz glaubte, gelang es ihm, sich zumindest teilweise zu vergeben. Der Orden, der in einer Schublade seines Schlafzimmers lag, würde ihn jetzt nicht mehr ganz so schlimm quälen, wäre nicht länger eine unablässige Erinnerung an sein Versagen.
    Also hatte Daniel Gillory ihm die Wahrheit aufgezeigt. Es war alles sehr seltsam.
    Nicholas’ Kopf begann zu schmerzen. Der Himmel war dunkel geworden, die Wolken, die sich immer tiefer auf die Erde zu senken schienen, waren von trüber rötlichgrauer Farbe. Er hatte den Tee versäumt, dachte Nicholas erleichtert. Aber er stand noch nicht auf, um zum Haus zu gehen.
    Wenn Daniel die Wahrheit gesagt hatte, mußte er dann alles andere, was Daniel gesagt hatte, ebenfalls als wahr anerkennen? Ja, das mußte er wohl. Was bedeutete …
    Was bedeutete, daß Daniel Gillory den Feuerdrachen nicht genommen hatte. Nicholas stellte fest, daß er ihm glaubte. Er hatte Daniel sein schlimmstes Geheimnis offenbart, und für Daniel wäre es ein leichtes gewesen, es ihm gleichzutun. Er hätte doch ganz einfach sagen können: »Ich hab den Feuerdrachen genommen und ihn in London verkauft. Ich brauchte Geld.« Nicholas wußte, daß er nicht einmal ärgerlich geworden wäre. Beim Lesen von Daniels Buch hatte er zu verstehen begonnen, was Armut für Leute wie die Gillorys bedeutete. Sie war nicht das, was Nicholas für Armut hielt – nur noch vier Dienstboten zu haben, deren Löhne mit dem Verkauf von Gemälden und Silber bezahlt wurden. Es bedeutete, nicht genug zu essen zu haben. Oder tagein, tagaus das gleiche eintönige Essen zu sich nehmen zu müssen. Es bedeutete, sich keinen Arzt leisten zu können, wenn man krank war. Es bedeutete, den letzten Shilling im Pub zu vertrinken, weil nur der Alkohol ein kurzes Vergessen der Wirklichkeit garantierte. Zum erstenmal begriff Nicholas, daß die Armen keine andere Spezies als ihre Vorgesetzten waren – sie waren dieselben Menschen, ihnen war nur ein anderes Schicksal widerfahren. Früher war ihm die arme ländliche Bevölkerung immer als eine unattraktive, reizlose Masse erschienen. Er hatte ihr Leid gesehen, aber geglaubt, es sei zum größten Teil selbst verschuldet.
    Nicholas stand auf. Ein Problem blieb noch. Wenn Daniel Gillory den Feuerdrachen nicht genommen hatte, wer dann? Der Kopf schwirrte ihm vom Nachdenken, es gelang ihm nicht sofort, seine Erinnerungen zu ordnen.
    Zurück im Haus, nahm er eine Whiskyflasche und ein Glas und ging unter dem Vorwand, starke Kopfschmerzen zu haben, auf sein Zimmer. Als seine Mutter später an seine Tür klopfte, rührte er sich nicht und gab vor zu schlafen. Aber er blieb die ganze Nacht wach. Bei offenen Vorhängen sah er durchs Fenster auf die Rasenflächen, die Koppel und den Deich hinaus, die in Dunkelheit gehüllt vor ihm lagen.

18
    THOMASINE NAHM SICH einen Tag frei und suchte an einem Freitag Ende November Sir Alfred Duke auf. Das Büro am Lincoln’s Inn Field war bis obenhin mit Büchern und Akten vollgestopft. Weiße Papierrollen, von scharlachroten Bändern zusammengehalten, stapelten sich auf Schreibtisch und Schränken. Im Kamin glühten die Drähte eines Elektroheizers. Sir Alfred war in den mittleren Jahren, hatte einen Schnurrbart und ein Monokel und trug ein Hemd mit ausgelegtem Kragen, einen

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