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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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im angrenzenden Büro klingelte ein Telefon. Sir Alfred runzelte die Stirn und putzte erneut sein Monokel.
    Â»Ein interessanter Streitfall, in der Tat. Sollte das Sorgerecht für ein Kind einem Elternteil zugesprochen werden, der an einer Geisteskrankheit leidet, oder einem Elternteil, der in der Vergangenheit ein unmoralisches Leben geführt hat?« Über den vollgepackten Schreibtisch hinweg sah er Thomasine an. »Ihnen ist doch bewußt, Miss Thorne, daß Sie von jedem geschickten Verteidiger als eine Frau gebrandmarkt würden, die ein unmoralisches Leben geführt hat?« Sir Alfreds Blick richtete sich langsam zur Decke. »Wirklich – ein interessanter Streitfall. Mir fällt kein vergleichbarer Fall ein. Woods gegen Woods vielleicht … Nein – die Mutter war behindert … Aber, Miss Thorne, falls Sie sich entschließen sollten, meine Dienste in Anspruch zu nehmen, bin ich zuversichtlich, Ihre Interessen wirkungsvoll vertreten zu können. Schließlich hält die Krankheit Ihres Exmannes bedauerlicherweise immer noch an, während Sie, wie ich doch zu Recht annehmen darf, seit Ihrer Scheidung ein untadeliges Leben geführt haben. Sir Nicholas Blythe hingegen muß immer noch als nicht vertrauenswürdig – sogar als gefährlich – angesehen werden. Wohingegen die Fehltritte in Ihrer Vergangenheit jugendlicher Torheit zugeschrieben werden können. Wenn ich ein Spieler wäre – was ich nicht bin –, würde ich darauf wetten, daß das Gericht in der Sorgerechtsfrage zu Ihren Gunsten entscheidet.«
    Er lächelte, sah sie aber gleichzeitig eindringlich an. »Miss Thorne?« fragte er freundlich.
    Sie konnte im Moment keinen klaren Gedanken fassen. Die Aussicht, William wiederzubekommen, war so wundervoll, geradezu atemberaubend. Und dennoch …
    Â»Ãœberlegen Sie es sich«, sagte er.
    Nicholas blieb bis zum Morgengrauen wach, dann döste er ein paar Stunden. Am Vormittag stand er, benommen vor Schlafmangel, auf. Lady Blythe war noch in ihrem Zimmer und schrieb Briefe, daher wartete Nicholas im Wintergarten, rauchte und trank Kaffee. Durch die hohen Glasfenster sah er, daß die dichte Bewölkung, die tagelang angehalten hatte, endlich aufzubrechen begann. Durch die kleinen blauen Öffnungen zwischen den Wolken fielen dünne Sonnenstrahlen auf die Erde. Mit der seltsamen Gedankenklarheit, die Schlafmangel zuweilen mit sich bringt, stellte Nicholas fest, daß die aufgerissene Wolkendecke seinen eigenen Gemütszustand widerspiegelte. Endlich begann er, die Dinge klar zu sehen.
    Seine Mutter kam herunter und gesellte sich zu ihm. Nicholas ließ frischen Kaffee bringen. Da die Sonne auf die Fenster brannte, war der Raum überheizt. Die Erde und die Pflanzen verströmten einen intensiven, säuerlichen Geruch. Nicholas hatte das Gefühl, seit Ewigkeiten hier zu sitzen. Das Muster der Fliesen, die Farbe der Blumen und die Aufstellung der Terrakottatöpfe hatten sich tief in ihn eingebrannt. Er zündete sich eine weitere Zigarette an, während Lady Blythe Kaffee einschenkte. Er sah seiner Mutter zu und versuchte, sie nicht zu hassen.
    Â»Thomasine war bei Anwälten, Mama, um herauszufinden, ob es eine Möglichkeit gibt, das Sorgerecht für William wiederzubekommen«, begann er.
    Ein helles Auflachen, während sie mit dem Einschenken fortfuhr. »Wirklich? Sie hat wohl Geld zu vergeuden.«
    Â»Das ist nicht der Punkt.« Nicholas schüttelte den Kopf, als ihm seine Mutter die Kaffeetasse reichte. »Der Punkt ist der, daß du mir gesagt hast, Thomasine habe freiwillig das Sorgerecht für William an mich abgetreten.«
    Die ganze Nacht hindurch hatte er versucht, sich an die Ereignisse der Monate nach dem Autounfall zu erinnern. Es war eine wirre, von Krankheit beschwerte Zeit für ihn gewesen. Als er es mit David Franks’ Hilfe geschafft hatte, aus dem Dunkel aufzutauchen, mußte er feststellen, daß mit einemmal alles anders war: Thomasine war fort, es gab Vereinbarungen, daß das Kind sie einmal im Monat in London besuchen durfte, die Scheidung war eingeleitet worden.
    Mit einem Anflug von Mißbilligung runzelte Lady Blythe die Stirn, was sie rasch unterdrückte, aber Nicholas in seinem überreizten Wachzustand nicht entging.
    Â»Das ergibt doch keinen Sinn, oder? Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Wenn Thomasine das Sorgerecht für William

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