Die geheimen Jahre
»Lally hat ein Mädchen getroffen, das mit Thomasine Thorne in Paris befreundet war. Dieses Mädchen â ihr Name ist Alice â hat Lally alles erzählt. Lally hielt es für das beste, mich zu informieren.«
Als Nicholas sich zurückbesann, erinnerte er sich an drei Mädchen in einer Ecke des Cafés auf dem Montmartre. Zwei Blondinen, eine Rothaarige. Alice, Poppy und Thomasine.
Er erinnerte sich auch an Lally. Lally in dem lavendelblauen Kleid, das er ihr gekauft hatte, Lally, die auf dem Tisch saà und sich die Haare abschnitt. Das Klicken der Schere, die kohlschwarzen Locken, die zu Boden fielen.
»Also siehst du ein, Nicky, daà Thomasine nicht die richtige Person ist, um das Sorgerecht für ein Kind auszuüben?«
Er wandte den Blick von ihr ab. Er ertrug es kaum, im selben Raum mit ihr zu sein. Also hatten sie beide, er und Thomasine, ihre Geheimnisse gehabt. Genau wie er seine schrecklichen Kriegserlebnisse vor ihr verborgen hatte, hatte sie ihre eigenen Verletzungen und Niederlagen vor ihm versteckt. Er haÃte Thomasine nicht: Er wuÃte nur zu gut, was spontanes Handeln, Schuldgefühle und Bedauern bedeuteten.
Er flüsterte: »Thomasine soll William bekommen, Mama. Das ist mein Wunsch. Was du getan hast, war grausam. Wer bist du, um über ein anderes menschliches Wesen zu urteilen?«
Sie war einverstanden gewesen, Daniel am Nachmittag zu treffen. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, die Verabredung abzusagen, hätte Thomasine dies getan. Sie wollte nur in ihr Zimmer zurück, sich im Bett verkriechen und herausfinden, was sie tun sollte. Aber Daniel hatte kein Telefon, und es war keine Zeit mehr, um ihm zu schreiben. Während sie an einem Tisch im Strand Corner House in der Nähe von Charing Cross auf ihn wartete, bià sie an ihren Nägeln und versuchte nachzudenken.
Sie könnte William zurückbekommen und den Menschen, den sie am meisten liebte, jeden Tag bei sich haben. Sie konnte ihn zur Schule bringen, ihn baden, ihm Essen kochen. All diese alltäglichen Verrichtungen wären unendliche Freuden. Sie könnte sehen, wie er aufwuchs, ihn zum erstenmal ins Theater führen, mit dem Zug ans Meer in die Ferien mit ihm fahren. Ihre Sehnsucht war maÃlos, alles verzehrend. Und doch hielt etwas sie zurück.
»Thomasine?«
Sie sah auf. Daniel lieà sich auf der Bank ihr gegenüber nieder.
»Tut mir leid, daà ich zu spät komme. Es war eine lange Fahrt, und das verdammte Motorrad macht schon wieder Schwierigkeiten.«
Sie bemühte sich, höflich zu sein. »Wo bist du denn gewesen?«
Die Bedienung erschien. Daniel bestellte Brot, Butter und Kuchen.
»Ich war in Drakesden.«
Einen Moment lang wurde sie von ihren quälenden Gedanken abgelenkt. »Wie warâs?«
»Ach â eigentlich wie immer. Harrys kleines Mädchen kann schon laufen, und Harry und Annie züchten jetzt Chrysanthemen. Und ⦠ich habe Nicholas getroffen.«
Zum erstenmal sah sie ihn richtig an. Daniels alter Armeemantel war mit einer dicken Staubschicht bedeckt und sein Haar vom Wind zerzaust. Im Gegensatz zu sonst stand ein banger Ausdruck in seinen Augen.
»Ich meine, ich habe mit Nicholas geredet .«
Der Tee wurde gebracht und von beiden nicht angerührt.
»Du hast dich mit Nicholas gestritten? «
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich meine, tatsächlich geredet. Er war im Kirchhof, als ich ein paar Blumen für Fay hinbrachte. Also habe ich ihn angesprochen.«
Seine Lider senkten sich und verbargen seine Augen. Sie sah ihn lange an, dann sagte sie ruhig: »Ach komm, Daniel. Ich glaube nicht, daà ihr beide euch übers Wetter unterhalten habt ⦠oder über Politik â¦Â«
»Ich habe ihn nach William gefragt. Ich habe ihn gefragt, ob es irgendeine reale Aussicht für dich gibt, das Kind je zurückzubekommen.«
»Du hast was? « Sie starrte ihn entsetzt an. »Wie kannst du es wagen, Daniel? Das geht dich überhaupt nichts an â¦Â«
»Ich hatte gehofft, es würde mich in Zukunft etwas angehen. Dein Wohlergehen, meine ich.« Er griff über den Tisch und berührte ihre Hand. »Hör zu â ich weiÃ, daà ich mich eingemischt habe, aber ich kann nicht zusehen, wie du dich zu Tode grämst. Das kann ich einfach nicht. Und wenn die Blythes das Kind auf keinen Fall herausrücken wollen, dann hielt ich es für das beste,
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