Die geheimen Jahre
flüsterte Lallys Stimme. Im Safe .
Wie in den übrigen Gärten war auch hier alles von Unkraut überwuchert. Rosentriebe, an denen immer noch ein paar späte Blüten hingen, verhakten sich ineinander. Das Gras stand hoch, mit dichten Unkrautbüscheln durchsetzt. Efeu wand sich über die Mauern, seine Saugnäpfe zerrten an den alten Ziegeln und fraÃen den trockenen Mörtel weg. Welkes Laub sammelte sich an den Rändern der Blumenbeete und in den Mauerecken. Der Herbst war trocken gewesen, und die Blätter waren braun und verdorrt.
Nicholas verlieà den ummauerten Garten und ging ums Haus. Sonnenlicht fiel auf die alten gelben Wände und lieà jeden einzelnen Ziegelstein hervortreten. Die Blüten und Blätter der Glyzinie waren abgefallen, nur die kahlen grauen Ãste waren zurückgeblieben. Er blickte zu der Ostmauer hinauf, dann sah er noch einmal genauer hin.
Nicholas wollte seinen Augen nicht trauen und trat näher. Er streckte die Hand aus und berührte den feinen zackenförmigen RiÃ, der sich zwischen den Ziegeln gebildet hatte. Sein kleiner Finger paÃte fast in die Ãffnung hinein. Feiner Mörtelstaub rieselte ins Gras, als er daran kratzte. Nach oben blickend, verfolgte er die Spur des schmalen Spalts. Die Mauer, die zweihundert Jahre gestanden hatte, brach entzwei.
Von kaltem Entsetzen gepackt, ging Nicholas taumelnd zur Ecke des Hauses. Dort blieb er stehen und sah auf die Seitenmauer, die an die vordere Rasenfläche grenzte. Die Mauer wölbte sich vor, geringfügig nur, aber dennoch unverkennbar. Von vorn betrachtet wäre die Wölbung nicht sichtbar gewesen. Nur von hier aus, nur aus diesem Blickwinkel, war das krebsartige Geschwür, das Drakesden Abbey zerstörte, zu erkennen.
Ihm wurde nun klar, daà er alles falsch gemacht hatte. Jahrelang hatte er alles aus dem falschen Blickwinkel betrachtet. Einfach alles â das Haus, die gesamte Vergangenheit â hing davon ab, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.
Er lief zu dem Daimler, der vor dem Haus parkte. Das ungemähte Gras brachte ihn zum Stolpern, das zerfallende Haus verhöhnte ihn. Doch etwas gab ihm Kraft, sich auf den Fahrersitz fallen zu lassen, den Wagen zu starten und loszufahren.
Lally hatte gesagt: Am besten, man tut einfach, was man will. So mach ich es jedenfalls . Er muÃte nach London, um Lally zu sehen. Er wuÃte, was sie getan hatte. Endlich sah er klar.
Daniel hatte bereits einige Gläser getrunken, als Anthea Millford auf der Party in Mayfair eintraf. Das groÃe, hell erleuchtete Haus mit den vielen Gästen, der Alkohol und seine Begleiterin hielten ihn eine Weile davon ab, an Thomasine zu denken.
Laute Musik und die vor sich hin plätschernden Partygespräche umgaben ihn. Alles schien zu glitzern. Was für ein Gegensatz, dachte er, zu einem Kirchhof in den Fens oder einer Reihe von Siedlungshäusern in Leeds. Wenn er wollte, könnte er dieses Leben und all die Dinge, die dazugehörten, haben: ein ordentliches Haus, ein Auto, Restaurants, Theater. Er brauchte bloà weiterhin geschickt und umwerfend zu sein und eine Weile nicht auf die unerfreulicheren Aspekte des Lebens zu sprechen kommen. Das wäre das Vernünftigste.
Anthea reichte ihm ein Glas Champagner. »Trinken Sie das, mein Lieber, und schauen Sie nicht so geknickt.«
Ihr kurzes Kleid war aus einem glänzenden rosafarbenen Stoff und mit Federn besetzt. Auf ihrem Stirnband prangte eine weitere Feder. Daniel fand, daà sie wie ein reichlich blasser Indianer aussah.
»Ich möchte Sie einer Unmenge von Leuten vorstellen, mein Lieber. Furchtbar wichtigen Leuten.«
Er lieà sich durch den Raum führen und mit verschiedenen Männern und Frauen bekannt machen. Er schaffte es, höflich zu sein und Diskussionen über Politik, soziale Gerechtigkeit oder all die anderen Dinge, die ihm in den letzten Jahren wichtig geworden waren, zu vermeiden. Während aus dem angrenzenden Raum Charleston-Klänge herüberdrangen, trank er kontinuierlich weiter.
Nach einer Weile spürte er eine Hand an seinem Ellbogen und wurde in die vergleichsweise stille Diele hinausgeführt. Zu seiner Ãberraschung stellte er fest, daà Anthea wütend war.
»Was ist denn? Ich hab mich doch gut benommen.«
»Zu gut, verdammt.« Sie stampfte mit den Absätzen ihrer hochhackigen Schuhe auf. »Hören Sie zu, mein Lieber, wenn Sie weiterkommen
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