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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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die Jungen aus den Privatschulen, die zu Tausenden rekrutiert wurden, um dann als Offiziere ihren weniger begünstigten Kameraden vorzustehen.
    Mit einer Mischung aus kühnem Trotz und vager Angst war er schließlich in einem der weniger attraktiven Viertel Londons gelandet, entschlossen zu überleben und nicht zu seiner Familie zurückzukehren. Die ersten vierzehn Tage waren furchtbar: wenig Essen und kein Dach über dem Kopf. Dann lernte er Hattie kennen, und alles wurde anders.
    Hattie war auf ihn gestoßen, als er vor ihrem Pub in Bethnal Green die Abfalltonnen durchstöberte. Sie hatte ihn mit ins Haus genommen, ihm einen Teller Pastete mit Kartoffelbrei vorgesetzt und später, nachdem sie ein wenig von seiner Geschichte gehört hatte, Arbeit angeboten. Gläser waschen, Bierfässer tragen, Boden putzen. Hattie war vierzig, füllig und kurzatmig, und ihr Mann hatte sich eine Woche zuvor zur Armee gemeldet. Es sei keineswegs uneigennützig, hatte sie gemeint, sie brauche einen Jungen für die schwerere Arbeit. Daniel nahm ihr Angebot begeistert und dankbar an.
    Eine Woche später fand er sich in Hatties Bett wieder. »So ein hübsches Gesicht«, sagte sie an jenem Abend zu ihm und strich ihm mit den Fingern durch die Locken. Eingebettet in Hatties warmen weißen Körper, den Kopf benebelt von seinem ersten Schluck Whisky und die Hände noch feucht vom Spülwasser, verlor Daniel seine Jungfräulichkeit.
    Danach begann für sie eine Form von Gemeinschaft, die sich für sie beide als ebenso nützlich wie bequem erwies. Daniel übernahm allmählich immer mehr von den Aufgaben im George and Dragon. Er führte die Bücher, bestellte die Getränke und half am Abend, die Rowdys rauszuwerfen. Hattie behielt die Bedienungen im Auge und plauderte mit den Gästen. Weil Hattie für die Nöte ihrer Gäste stets ein offenes Ohr hatte, war das Lokal immer voll.
    Eineinhalb Jahre später, Anfang 1916, meldete sich Daniel erneut im Rekrutierungsbüro. Diesmal machte niemand Ausflüchte. Achtzehn Monate Bierfässer schleppen und Hatties gutes Essen hatten ihn stattlich und kräftig werden lassen. Im Frühling war er in Frankreich.
    Am Ende des Sommers war er Offizier. Er konnte lesen und schreiben und im richtigen Tonfall sprechen. Abgesehen davon waren die Scharen von Privatschuljungen bei Ypres, Loos und Gallipoli gefallen. Sein ausgeprägter Instinkt für Selbsterhaltung und seine harte und unverzärtelte Kindheit halfen ihm, die Schrecken an der Somme fast ohne Schaden zu überstehen. Er überlebte, wurde befördert und war für Wohl und Wehe von sechzig Männern verantwortlich. Er schaffte es, dies alles durchzustehen, bis Passchendaele kam.
    Selbst jetzt, ein Jahr später, gelang es ihm nicht, sich deutlich daran zu erinnern. Es war, als hätten ihn die Ereignisse dieses schrecklichen Tages so stark erschüttert, daß er am Ende nicht mehr derselbe war. Die wenigen Gewißheiten, die er besessen hatte, waren ihm entrissen worden, so daß er, als er nach der Operation an seinem Beim im Feldlazarett aufwachte, wieder ganz von vorn anfangen mußte. Nur daß ihm die Kraft dazu fehlte. Erst einen Monat später, als er sich in England erholte und wieder zu gehen lernte, begann er, die Bruchstücke seiner Erinnerung zusammenzusetzen.
    Die ersten Strahlen der Morgensonne fielen über die ordentlichen Gärten Richmonds. Daniel wußte, daß er schrecklich müde war und Schlaf brauchte. Da die Wirkung des Alkohols allmählich nachließ, begann sein Bein wieder zu schmerzen. Die Vernunft sagte ihm, daß er sich in einer billigen Pension ein Zimmer nehmen und ausruhen sollte, aber er hielt sich lieber auf freien Plätzen und an der frischen Luft auf. Außerdem war er knapp bei Kasse, wie immer.
    Am Abend erreichte er Bethnal Green, wohin ihn Lastwagen, Autos und Eselskarren mitgenommen hatten. Im Zentrum von London wurde immer noch getanzt und gesungen. Inzwischen türmten sich der Unrat und Abfall von den Siegesfeiern auf den Gehsteigen: riesige Haufen von Flaggen, Wimpeln und Papierhüten. Am Eingang des George and Dragon schob Daniel einen schnarchenden Mann beiseite und ging hinein.
    Eigentlich hatte er erwartet, Hattie im Lokal anzutreffen, wie üblich auf ihrem Hocker sitzend, Portwein mit Lemon trinkend und gute Laune verbreitend. Er redete kurz mit einer der Bedienungen und humpelte dann

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