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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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die Tür auf.
    Â»Liebes! Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Ich dachte, vielleicht bleibst du die Nacht …«
    Mit letzter Kraft stieß Thomasine hervor: »Das ist Captain Daniel Gillory, Tante Tony. Er war unser Nachbar in Drakesden. Er hat mich nach Hause gefahren.« Und dann verschwamm alles vor ihren Augen, wurde schwarz, und der Boden unter ihr gab nach.
    Daniel trug Thomasine ins Bett hinauf und wartete dann, wie ihm geheißen wurde, im Wohnzimmer. Im Lauf der vergangenen Jahre hatte er sich eher daran gewöhnt, Befehle zu erteilen, statt welche zu erhalten, aber er hatte gleich gesehen, daß man sich mit Thomasines Tante Antonia besser nicht anlegen sollte.
    Also setzte er sich gehorsam und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sein Bein tat ihm schrecklich weh, aber daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Sowohl die Schmerzen als auch das Hinken würden mit der Zeit nachlassen, hatten die Ärzte erklärt. Er sah von den schlichten, stilvollen Möbeln auf die dichten Vorhänge vor den Fenstern und dann auf die Sammlung von Fotografien, Drucken und Zeichnungen auf den Wänden und dem Sekretär. Obwohl das Zimmer klein war, war es zugleich elegant und gemütlich. Es hatte Stil, fand er und wunderte sich, daß es noch solche Oasen gab.
    Nach etwa zwanzig Minuten kehrte Antonia zurück. Daniel wollte aufstehen.
    Â»Nein – nein. Bitte . Setzen Sie sich und ruhen Sie sich aus.«
    Wie befohlen, fiel er in seinen Sessel zurück. »Wie geht es ihr, Mrs. …?« fragte er.
    Â»Russell. Antonia Russell.« Sie runzelte die Stirn. »Thomasine schläft jetzt, aber es geht ihr gar nicht gut, fürchte ich, Captain Gillory. Gleich morgen früh werde ich den Arzt holen. Ich bin mir sicher, daß sie die Grippe hat, wie Sie gesagt haben.«
    Â»Halb London ist momentan erkältet«, antwortete Daniel. »Vor einem Monat hat es mich selbst ziemlich erwischt.«
    Er sah, daß sich Antonia bemühte, ihre Sorge zu unterdrücken, und ihn strahlend anlächelte. »Nun denn, Captain Gillory, wie kann ich Ihnen für Ihre Freundlichkeit danken? Sie müssen mir zumindest erlauben, Ihnen etwas zu essen anzubieten. Macht es Ihnen etwas aus, in der Küche zu essen? Meiner Ansicht nach ist es da viel gemütlicher, wenn man nur zu zweit ist.«
    Er folgte Antonia in die Küche. Während er an dem großen Fichtenholztisch saß, sah er zu, wie sie kalten Schinken, Brot, saure Gurken und Kuchen auftrug. Er bemerkte, daß ihre Speisekammer, wie bei so vielen Leuten, fast leer war, aber er sagte nichts und lehnte das Essen nicht ab. Außerdem hatte man ihm etwas zu essen angeboten, und er war verdammt hungrig.
    Â»Ich kann Ihnen Tee oder Kakao anbieten, Captain Gillory – oder warten Sie, irgendwo hab ich noch eine Flasche Pflaumenschnaps, glaube ich. Von meinem verstorbenen Mann …«
    Er hatte kein schwarzgerahmtes Foto im Wohnzimmer gesehen: Alle Fotos zeigten Tänzerinnen, Bühnenbilder oder Reihen lächelnder kleiner Mädchen in absolut identischen Kostümen.
    Â»Im Kampf gefallen?« fragte Daniel respektvoll.
    Â»Oh! Nein …« Antonia kramte mit dem Rücken zu ihm im Speiseschrank. »Ich wurde schon lange vor dem Krieg Witwe. Da ist sie, Captain Gillory.«
    Triumphierend hielt sie die flache, staubige Flasche hoch. Sie war eine winzige Frau, noch kleiner als Thomasine. Ihr kastanienbraunes, inzwischen ein wenig verblichenes Haar war elegant hochgesteckt. Ihre Haltung war sehr aufrecht, ihre Bewegungen waren anmutig und kontrolliert.
    Â»Entschuldigen Sie das Wasserglas. Ich hab kein Schnapsglas im Haus.«
    Daniels Finger umklammerten das Glas. »Sie sollten sich mir anschließen, Mrs. Russell. Schließlich …«
    Â»Ja. Natürlich. Der Krieg.«
    Antonia fand ein zweites Wasserglas und goß sich einen Fingerhut voll Pflaumenschnaps ein. Zögernd sagte sie: »Wir sollten auf den Sieg trinken, schätze ich, aber irgendwie …«
    Zuerst konnte er kaum sprechen. Er hatte einen Kloß im Hals, und Bilder der vergangenen vier Jahre zogen an seinem inneren Auge vorbei. Die Küche war luftig und geräumig, aber plötzlich spürte er die schreckliche Panik in sich aufsteigen, die ihn in letzter Zeit häufig in geschlossenen Räumen befiel.
    Â»Auf den Frieden«, stieß er hervor.
    Â»Auf den Frieden«, wiederholte Antonia sehr

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