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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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leise und hob ihr Glas.
    Â»Und auf gute Gesundheit für uns alle. Für Sie, Captain, und für Thomasine. Und für meine Schwester und Ihre Familie.«
    Er trank einen Schluck Schnaps, und der Knoten in seinem Hals löste sich auf, der Raum hatte nichts Bedrohliches mehr, seine Wände waren wieder gerade und die Ecken wieder hell.
    Â»Sie sind also aus Drakesden, Captain Gillory?« fragte Antonia.
    Der Alkohol hatte ihm den Magen gewärmt und ihn ein wenig entspannt.
    Â»Mein Vater war dort Hufschmied, und meine Mutter bewirtschaftete ein kleines Anwesen. Ihre Schwester – die jüngere Miss Harker – war sehr freundlich zu mir. Sie lieh mir manchmal Bücher.«
    Â»Werden Sie zurückgehen?«
    Er trank den Schnaps aus und stellte sein Glas ab. »Ich weiß es nicht. Ich hab noch nicht darüber nachgedacht. Während der vergangenen Jahre schien die Zukunft irgendwie in weite Ferne gerückt, wissen Sie. Daß überhaupt einer von uns eine Zukunft haben sollte, meine ich.«
    Â»Natürlich.« Sie lächelte ihn an. »Sie werden Zeit zum Nachdenken brauchen. Aber jetzt, Captain Gillory, muß ich gehen und mich um Thomasine kümmern. Sie bleiben doch über Nacht bei uns? Wir haben zwar kein Gästezimmer, aber ich kann Ihnen auf der Couch im Wohnzimmer ein Bett richten.«
    Diesmal nahm er keine Befehle entgegen. Er erhob sich und war dankbar, daß der Alkohol die Schmerzen in seinem Bein unterdrückte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Russell, aber ich möchte jetzt lieber gehen. Ich hab noch was zu erledigen …«
    Er ging aus dem Raum und nahm seinen Mantel von der Garderobe in der Diele.
    Â»Sie geben uns doch Ihre Adresse, Captain Gillory?« sagte Antonia. »Ich bin sicher, Thomasine will Ihnen schreiben und sich bei Ihnen bedanken, wenn sie wieder gesund ist.«
    Sie reichte ihm einen Block und einen Stift. Er beugte sich über die Anrichte und schrieb »Daniel Gillory« auf den oberen Rand des dicken weißen Papiers. Dann hielt er inne.
    Â»Ich kann mich an die Nummer meiner Unterkunft nicht erinnern«, log er. »Es ist schon ein oder zwei Jahre her. Ich werde Ihnen schreiben und meine Adresse zukommen lasen.«
    Antonias Blick traf den seinen. Ihre Augen hatte dieselbe Farbe wie die von Thomasine, und in dem Moment wußte er, daß es richtig war, sich nicht mehr mit den Thornes, Russells oder Harkers einzulassen.
    Antonia öffnete ihm die Haustür. Als er den Weg hinunterging, sagte sie: »Wenn Sie uns je brauchen sollten, Captain Gillory, oder wenn Sie einfach Gesellschaft haben möchten, sind Sie uns immer willkommen.«
    Daniel fuhr das Automobil, einen Rolls-Royce, ein paar Straßen weiter weg und ließ es am Randstein stehen. Der Motor stotterte ein wenig, als er an den Gehsteig fuhr, und verschluckte sich an den letzten Tropfen Benzin.
    Als er ausstieg und zu Fuß weiterzugehen begann, wußte er, daß es nur einen Ort gab, an den er gehen konnte. Er mußte nach Bethnal Green zurück und den Pub finden, in dem er gearbeitet hatte, bevor er Soldat geworden war. Er freute sich darauf, Hattie wiederzusehen. Nur der Gedanke an das Londoner East End schreckte ihn ab. Die engen Gassen, die Labyrinthe überfüllter Mietskasernen und vor allem die Fahrt mit der U-Bahn.
    Hier war er froh über die weiträumigen Straßen und die frische Luft nach dem Regen. In etwa einer Stunde würden die ersten Strahlen des Morgens über die Dächer und die Baumreihen entlang der Straßen steigen. Im East End von London gab es keine Bäume. Dort lebten die Menschen anders.
    Vor vier Jahren hatte er drei Tage gebraucht, um von East Anglia nach London zu kommen. Er fuhr per Anhalter, schlief am Straßenrand und bettelte um Essen. Als er die Stadt erreicht hatte, tat er das Nächstliegende und begab sich zum erstbesten Rekrutierungsbüro. Regelmäßiges Essen, saubere Kleider und bezahlte Arbeit waren ihm damals als durchaus erstrebenswert erschienen. Aber sie hatten den dürren, unterernährten Fünfzehnjährigen ausgelacht und ihm erklärt, daß er sich in ein oder zwei Jahren wieder melden solle. Er fühlte sich gedemütigt, wußte seitdem aber, daß es sich um eine ganz allgemeine Erfahrung handelte, daß die Angehörigen seiner Klasse oft nicht als groß oder kräftig genug angesehen wurden, um als Soldaten genommen zu werden. Es waren

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