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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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über ihm. Noch immer tropfte Regenwasser von den Blättern und erinnerte an die Schauer der vergangenen Nacht. Seine Füße versanken in dem weichen, schwarzen Schlamm. Er hörte Schritte im Laub und starrte, am ganzen Körper zitternd, in die Düsterkeit. Eine dunkle Gestalt, ziemlich klein, niedergedrückt vom Gewicht einer Tasche, kam durchs Unterholz auf ihn zu. Mit weit aufgerissenen Augen sagte Nicholas: »Lally!« , und seine Schwester sah auf.
    Sie trug ihre Schuluniform, ein unkleidsames Sammelsurium aus braunen, mit Goldpaspeln gesäumten Kleidungsstücken. An den Rand ihres Filzhuts hatte sie ein Büschel Blätter, Federn und erste Frühlingsblumen gesteckt.
    Â»Du siehst aus wie ein Indianer«, sagte Nicholas.
    Â»Und du erst«, antwortete Lally, die ihn in aller Ruhe inspizierte. »In Uniform hast du mir besser gefallen.«
    Â»A propos Uniform – warum bist du nicht in der Schule?«
    Â»Ich hab sie geschmissen.« Lally begann, aufs Tor des Obstgartens zuzugehen, und überließ es Nicholas, ihre Tasche zu tragen. »Es war schrecklich, Nick, ganz unmöglich. Wir mußten Lacrosse spielen – wenn ich den Ball je gefangen habe, was selten der Fall war, weil ihn mir nie jemand zugeworfen hat, ist er immer wieder aus dem Netz gefallen. Wir waren in Häuser aufgeteilt und sollten unser Team anfeuern. Wir sollten geknickt sein, wenn wir verloren hatten. Und die Uniform – also, schwarzhaarige Leute sollten kein Braun tragen müssen, oder?«
    Nicholas sah sie prüfend an. »Sie steht dir wirklich nicht besonders, Kleine.«
    Â»Und ich bin so fett geworden. Dicker Brei, immer und immer wieder nur dicker Brei.«
    Es stimmte, sie war ziemlich füllig geworden. Lallys kleines rundes Gesicht, eingerahmt von zwei wenig schmeichelhaften dicken Zöpfen, wirkte aufgedunsen, und ihr Körper unter dem häßlichen, ärmellosen Schulkleid und dem Mantel entbehrte aller weiblichen Rundungen. Dennoch war sie nicht unattraktiv, wie Nicholas mit dem Staunen des älteren Bruders bemerkte. Ihre dunklen schrägen Augen hatten etwas Katzenhaftes an sich, und ihr kleiner roter Mund war wunderschön geformt.
    Â»Du nimmst Lippenstift!« sagte Nicholas schockiert.
    Lally lächelte. »Ist er nicht hübsch? Ich hab auch Puder probiert, aber er hatte die falsche Farbe. Er hat mich wie Reispudding aussehen lassen.«
    Nicholas ergriff ihren Ellbogen, als sie durchs Tor trat. »Sie werden dich zurückschicken, das weißt du.«
    Â»Nein, das werden sie nicht«, erwiderte Lally herablassend. »Ich habe dem Kunstlehrer einen Liebesbrief geschickt und dafür gesorgt, daß ihn diese schreckliche Belinda, die Hausleiterin ist, gefunden hat. Ich wußte, daß sie schnüffeln würde. Er hatte schlechten Atem und hat sich aufrichtig gewehrt, aber dennoch, der Trick hat funktioniert. Außerdem bin ich schon fast siebzehn. Wenn Mama keinen Ball für mich gibt, dann eben nicht. Ich hab auch so debütiert. Ich bin jetzt erwachsen.«
    Als Nicholas in dieser Nacht allein in seinem Zimmer war, stiegen in der ländlichen Stille die schrecklichen Erinnerungen wieder in ihm auf. Die Stirn an die Knie gedrückt, versuchte er sie mit Lesen, Schaukeln und Vor-sich-hin-Singen abzuwehren. Aber wie immer überwältigten sie ihn mit quälender Klarheit.
    Er war 1916 Soldat geworden. Er wollte sich schon früher melden, aber seine Mutter ließ es nicht zu. Weil sein älterer Bruder Gerald schon in den ersten Kriegsmonaten in Stücke gerissen worden war, hatte er ihr gehorcht.
    Zusammen mit seinem Freund Richardson ging er zum Rekrutierungsbüro. Nicholas und Richardson waren in Winchester Freunde gewesen. Richardson war ein ausgezeichneter Kricketspieler, ein besserer als Nicholas, und Nicholas hatte ihn immer bewundert und gemocht. Richardson hatte blondes Haar, blaue Augen und ein breites Lächeln.
    Frankreich war anders, als Nicholas sich vorgestellt hatte. Es gab Ratten, die bei Nacht in Schwärmen über die schlafenden Männer herfielen, und es gab Läuse. Nach den ersten paar Tagen in Frankreich hatte sich Nicholas nie mehr sauber gefühlt. Die Gräben und die Bombentrichter waren mit kaltem braunem Wasser gefüllt, und die ganze Umgebung war eine Mondlandschaft aus dickem Schlamm. Wenn ein verwundeter Soldat in den Morast fiel, schaffte er es oft nicht mehr herauszukommen und starb

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