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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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hören. Er führte sie durch einen kleinen, eingezäunten Park. Paare wälzten sich im Schutz der Büsche im Gras. Das Mondlicht, das kurz durch die Wolken leuchtete, ließ die Umrisse von kahlen Ästen sichtbar werden.
    Der Wagen stand am anderen Ende des Platzes. »Wo ist der Fahrer?« fragte Thomasine benommen. Sie hatte zu zittern begonnen und schaffte es kaum, die Knöpfe ihres Mantels zu schließen.
    Daniel zuckte die Achseln. »Der Wagen ist vermutlich heute nachmittag stehengelassen worden. Hat’s nicht geschafft, durch die Menge zu kommen, schätze ich. Der Fahrer vergnügt sich vermutlich im Pub.«
    Er setzte sich ans Steuer. Eine Drehung der Zündung, und der Motor sprang an. Daniel öffnete von innen die Beifahrertür.
    Â»Setz dich und leg dir meinen Mantel um.« Mit einem Tuch wischte er die Windschutzscheibe ab. »Wo soll ich dich hinbringen?«
    Â»Nach Teddington. Meine Tante wohnt in Teddington.«
    Sie kamen nur langsam und stockend voran. Der ständige Regen, der über die Windschutzscheibe rann, erschwerte die Sicht. Durch den Spalt zwischen Tür und Dach tropfte es herein. Bald war Daniels Mantel mit Regentropfen übersät. Ständig begegneten sie Gruppen von Feiernden und mußten anhalten und hupen. Die Leute gingen aus dem Weg, wie Thomasine feststellte, weil Daniel eine Offiziersuniform trug. Es erstaunte sie kein bißchen, daß Daniel Gillory, der Sohn des Hufschmieds, Offizier geworden war.
    Manchmal döste sie ein, und ihre Träume waren anstrengend und wirr. Aber das ungewohnte Rütteln des Autos weckte sie alle paar Minuten wieder auf. Dann war sie plötzlich wieder hellwach und unruhig, fühlte sich unwohl und reckte die schmerzenden Glieder. Sie starrte Daniel an und fand, daß er sich beträchtlich verändert hatte. Er war ein geübter Fahrer und konzentrierte sich auf die Straße.
    Â»Wann bist du Soldat geworden, Daniel?«
    Daniel sah Thomasine von der Seite an. Das Automobil holperte über das Kopfsteinpflaster. »1916«, antwortete er. »Ich hab’s früher versucht, aber sie wollten mich nicht nehmen. Davor war ich zwei Jahre in London.«
    Trotz der Kopfschmerzen zwang sie sich, sich zu erinnern. Sie wußte, daß Daniel die Schule verlassen mußte, sie wußte auch, daß er mit fünfzehn von zu Hause fortgelaufen war, aber niemand wußte damals wohin. Tante Hilly hatte ihr alles geschrieben.
    Â»Und deine Familie …?« fragte sie unbestimmt.
    Â»Mein Vater ist vor zwei Jahren gefallen, bei Arras. Harry Anfang des Jahres. Er war bloß ein paar Wochen in Frankreich gewesen, das arme Schwein. Tut mir leid, Thomasine. Der Krieg hat meiner Ausdrucksweise nicht sonderlich gutgetan.«
    Sie begann wieder zu zittern und zog Daniels Mantel enger um sich. »Und deine Mutter, Daniel?«
    Â»Sie starb sieben Monate, nachdem ich von zu Hause fort war. An einer Frühgeburt. Was ich allerdings erst sehr viel später erfahren habe.«
    Er sprach knapp und ausdruckslos. Sie hätte meinen können, daß ihn das alles nicht berührte, wenn sie nicht seine Fahrigkeit und die weiß hervortretenden Knöchel an seinen Händen bemerkt hätte, mit denen er das Lenkrad umklammerte.
    Â»Sammy ist in einem Waisenhaus, und Nell hat sich als Dienstmädchen verdingt. Ganz gute Stelle, sagt sie. Zu Violet hab ich den Kontakt verloren. Und das Neugeborene hat keine Woche überlebt.«
    Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Den Lärm und die Menge hatten sie hinter sich gelassen, nur gelegentlich traten Feiernde in ihren Blick, ein kurzes Aufflackern von Licht und Lärm in der Dunkelheit. Die Straßen und Häuser kamen ihr nun vertraut vor. Es war fast niemand unterwegs. Mit krächzender Stimme erklärte Thomasine, wie er zu fahren hatte, bis sie bei Antonias Haus angekommen waren und Daniel am Randstein anhielt.
    Â»Gut so. Wir haben fast kein Benzin mehr. Ich fahr den Wagen noch ein paar Straßen weiter, dann findet ihn die Polizei am Morgen.«
    Sie berührte seine Hand. »Du kommst doch mit rein, Daniel?«
    Â»Wenn du willst.« Er klang unsicher. »Auf ein paar Minuten.«
    Daniel öffnete die Wagentür, und sie stieg aus. Die Kälte und der Regen schlugen ihr entgegen, und sie begann wieder zu husten. Im Erdgeschoßfenster von Antonias Haus brannte Licht. Thomasine sah, daß sich der Vorhang bewegte, dann ging

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