Die geheimen Jahre
vorbei. Einige von ihnen erkannte er, einige stammten aus anderen Regimentern, einige hatten keine Gesichter mehr. Die Verwundeten starrten ihn mit entsetzten Augen an, und manchmal stöhnten sie und griffen nach ihm. Einen Mann, dessen Arm am Ellbogen abgerissen war, verband er mit seinem Verbandszeug. Immer wieder wickelte er die Binde um den zerschmetterten Stumpf in einem nutzlosen Versuch, die Blutung zu stillen.
Endlich entdeckte er eine Lücke in dem Stacheldraht. Wieder und wieder rutschte Nicholas in den Schlamm zurück, als er sich den Hügel hinaufkämpfte. Inzwischen war es dunkel, und er sah nur die Umrisse des Stacheldrahts, als die Mörser über ihm zu donnern begannen. Er hielt es für das richtige, zu versuchen, durch den Stacheldraht zurückzukommen. Die eisernen Stacheln zerkratzten seine Haut, Granatsplitter gingen neben ihm nieder. Sein Mund und seine Nase waren mit Schlamm verklebt, als er weiterkroch. Laut sagte er zu sich: »Schieb den Draht weg, Nick, beweg deine Beine.« Ganz am Ende des Drahts sah er die Ãffnung, und als er sich hindurchzwängte, fiel etwas auf ihn.
Als er es zur Seite schob, stellte er fest, daà der tote Mann, der auf ihn gefallen war, Offizier war, wie er selbst. Der Leichnam, der noch immer halb im Stacheldraht hing, war in sitzende Position gefallen, sein verbliebenes Bein war nach vorn gestreckt und versperrte Nicholasâ den Durchschlupf. Ganz langsam und zitternd kletterte er über die Leiche.
Er war gezwungen, dem toten Mann ins Gesicht zu sehen, und erkannte das blonde Haar und die weit aufgerissenen blauen Augen seines Freundes. Allerdings lächelte Richardson jetzt nicht â der untere Teil seines Kiefers war weggeschossen.
Nicholasâ Schrei war ein empörtes Aufheulen. Was er an diesem Tag gesehen hatte, war eine Beleidigung Gottes, der Natur und aller Dinge, die man ihn zu respektieren gelehrt hatte. Sein Geist weigerte sich, weitere Schrecken aufzunehmen, und er sehnte sich verzweifelt nach physischem Schmerz.
3
NACHDEM SICH THOMASINE von ihrer Grippe und der darauf folgenden Bronchitis erholt hatte, begann wieder ihr üblicher Tagesablauf. Am Morgen half sie Antonia bei den Rechnungen und Schreibarbeiten, am Nachmittag unterrichtete sie in der Tanzschule und brachte pausbäckigen Kindern und unbeholfenen Jugendlichen Steptanz, Ballett und Eurythmie bei. Am Abend nähte sie unzählige Kostüme für Tanzvorstellungen.
Die Aufführungen von Sunny Days hatten begonnen, waren aber während ihrer Krankheit abgesetzt worden, und weit und breit schien keine andere Arbeit in Sicht zu sein. Jede Woche sah sie aufmerksam die Theaterzeitungen durch. Für eine Revue in Bournemouth wurden Tänzerinnen gesucht oder in Harrogate eine Pantomimin. Sie hatte weder Lust auf Bournemouth noch auf Harrogate. Thomasine trainierte hart und war davon überzeugt, daà sie etwas Besseres finden würde. Das London der Nachkriegszeit war noch immer dunkel, trübselig und von Nahrungsknappheit geprägt. Sie träumte von blauen Himmeln, von Wärme und spannenden Erlebnissen und davon, genug Geld zu verdienen, um Hilda und Antonia zu langen, erholsamen Ferien einzuladen.
Eines Abends gingen Thomasine und Antonia ins Alhambra-Theater, um die Balletts Russes zu sehen. Es war ein warmer Abend, und der stickige Leicester Square war von Menschen übersät. Als das Orchester zu spielen begann und der Vorhang sich hob, vergaà Thomasine mit einemmal ihr stumpfsinniges Leben und ihre innere Unruhe. De Fallas berückende spanische Musik erfüllte das Theater, und die Tänzer auf der Bühne vollbrachten wahre Wunder. Die Kostüme, das Bühnenbild â alles überwältigte sie. Das war Tanzen. Sie war sich bewuÃt, daà in ihrem Leben etwas fehlte, etwas Unbestimmtes, etwas Wichtiges. Sie traute sich fast nicht zu blinzeln und zu atmen, als sie der Karsavina und Massine auf der Bühne zusah: Sie hatte Angst, auch nur einen Moment zu versäumen.
Am nächsten Morgen studierte sie The Stage mit neuer Entschlossenheit. Am Ende einer Seite entdeckte sie eine winzige Anzeige, in der »englische Tänzerinnen für eine Revue in Paris« gesucht wurden.
Das Heim für Kriegsheimkehrer entpuppte sich für Daniel als Reinfall. Zum Frühlingsbeginn hatte er das George and Dragon verlassen, nachdem ein Telegramm eingetroffen war, das die baldige Rückkehr von Hatties Ehemann
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