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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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darin.
    Eines Morgens wurde ihnen befohlen, erneut anzugreifen. Es war Anfang September: Die Schlacht an der Somme hatte am ersten Juli begonnen. Nicholas und Richardson waren seit April in Frankreich.
    Der Angriff begann um fünf Uhr früh. Die Erde bebte, als die Kanonen donnerten und den Vormarsch deckten. Aber jemand hatte einen Fehler gemacht, das Sperrfeuer schlug hundert Meter vor dem beabsichtigten Ziel ein, und Nicholas sah, wie seine Männer von ihren eigenen Leuten niedergemäht wurden. Manche hörten den Rückzugsbefehl, andere nicht. Nicholas kauerte mit etwa zwanzig Überlebenden in einem Graben. Granaten schlugen um sie ein. Nicholas wollte sich im Schlamm vergraben, sich mit den Fingernägeln so tief in die Erde einbuddeln, bis er sicher war.
    Schließlich formierten sie sich wieder und machten sich bereit, die Hügelkette anzugreifen. Als sie die Spitze der Hügel erreicht hatten, stellten sie fest, daß der Stacheldraht nicht ganz durchschnitten worden war. Während sie versuchten, nacheinander durchzukriechen, wurde einer nach dem anderen abgeschossen. Manche verhedderten sich im Draht und starben darin. Nicholas, der es irgendwie geschafft hatte, nicht erschossen zu werden, als er seine Leute durch den Stacheldraht führte, fand sich auf der falschen Seite des Hügelkamms wieder, im Niemandsland, und versteckte sich mit Holtby, Davis und Crashaw in einem Bombentrichter.
    Es war Tag, und obwohl es regnete, war die Sicht recht gut. Als Holtby den Kopf hob, um über den Kraterrand zu spähen, wurde er ins Gesicht geschossen, fiel zurück und schrie auf vor tödlichem Schmerz. Sie taten für ihn, was sie konnten – was allerdings fast nichts war –, und Nicholas war erleichtert, als er ein paar Minuten später starb.
    Dann setzte das Artilleriefeuer ein, und es dauerte bis Einbruch der Dunkelheit etwa acht Stunden später. Während dieser acht Stunden hatte Nicholas mit seinem Leben abgeschlossen. Bilder von früher zogen an ihm vorüber wie eine Reihe Fotografien: seine Kindheit, seine Schulzeit, seine Ferien in Drakesden. Das Durchleben seiner Vergangenheit erschreckte ihn, denn er wußte, daß es eintrat, bevor man starb. Schließlich sehnte er sich fast nach dem Tod, weil die Anspannung des Wartens so unerträglich geworden war.
    Als es Abend war, war er als einziger übriggeblieben. Es gab keinen, dem er Befehle geben konnte, keinen, der ihm welche gab. Das Artilleriefeuer hatte nachgelassen, und die kurzen Spannen der Stille erschreckten ihn. Er glaubte, er habe als einziger überlebt, und alle anderen auf dem Schlachtfeld, in Frankreich, auf der ganzen Welt seien gestorben. Als er versuchte, zum Kraterrand zu kriechen, stellte er fest, daß ihm seine Glieder nicht richtig gehorchten. Er beobachtete seine Hände, die in seltsamen, sinnlosen Kreisen durch die Luft fuchtelten. Er sah seine Beine zittern, die zur Hälfte im Wasser steckten. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren: Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich den schlammigen Hang hinaufgearbeitet hatte, um hinauszuspähen.
    Niemand schoß auf ihn, also hievte er seinen Körper aus dem Schlamm. Der Anblick der Landschaft im zunehmenden Zwielicht überzeugte ihn davon, daß es die Welt, in der er aufgewachsen war, nicht mehr gab. Endlos, von Kratern durchsetzt, breitete sich eine Mondlandschaft vor ihm aus. Die Flüsse dieses seltsamen Landes waren Schlammkanäle, seine Wälder blatt- und zweiglose Baumstümpfe, die aus dem Morast ragten. Die einzige Farbe war das Rot des Bluts der verwundeten Männer. Der Rest war monochrom.
    Nicholas verharrte einige Zeit am Rand des Kraters, weil er nicht wußte, wohin er sich wenden sollte. Davor hatte es immer einen Offizier, einen Lehrer oder Mama gegeben, die ihm sagten, was er zu tun hatte. Als schließlich wieder sporadisches Gewehrfeuer einsetzte, begann er zu kriechen. Er bewegte sich in keine bestimmte Richtung. Manchmal dachte er, er bewege sich im Kreis. Er kam sehr langsam voran, weil ihm Arme und Beine nicht gehorchten. Gelegentlich betastete er seinen Körper, um zu prüfen, ob er angeschossen worden war, ohne es bemerkt zu haben, aber er schien nicht verletzt zu sein. Er wußte, daß er schreckliche Angst hatte, aber er wußte nicht, wie er sich davon befreien sollte. Seine Todesangst schien zu- statt abzunehmen.
    Auf seinem Weg kam er an vielen verwundeten Männern

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