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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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er im Krieg erlebte.
    Als er ihren Brief las, vermutete er, daß ihre Unbeschwertheit, genau wie die seine, gespielt gewesen war. Daß er sie seit seiner Rückkehr nach England nicht besucht hatte, war eine sträfliche Vernachlässigung. Die Tinte war von Tränen verschmiert, und manche Wörter waren unleserlich. Schnell zog er seine Jacke an, setzte seine Mütze auf und nahm die Straßenbahn zur Liverpool Street Station.
    Für die Fahrt nach Ely hatte er Geld, weil er Fay seit fast einem Monat nicht gesehen hatte. Er mußte niemandem Kinokarten kaufen und niemanden mit Blumen und Süßigkeiten überschütten. Wenn Nell nicht gewesen wäre, hätte er sich über den Ausflug nach Ely gefreut. Er hielt ihn eine Weile davon ab, über sein Elend nachzudenken.
    Die Landschaft wurde immer vertrauter, je weiter der Zug sich von London entfernte. Hinter Cambridge verspürte er ein Kribbeln im Magen, als er aus dem Fenster blickte. Durch die Rauchschwaden, die der Zug ausstieß, sah er die flachen Felder, die immer noch vom silbrigen Wasser der Frühlingsflut bedeckt waren. Aus dem grauen, tiefhängenden Himmel, den Daniel wunderschön fand, fielen Regentropfen auf die Deiche und Marschen.
    In Ely angekommen, ging er sofort zu dem Haus, in dem Nell angestellt war. Er hatte seine Uniform angezogen, weil sie immer noch einen gewissen Respekt einflößte. Der Akzent, den er sich seit den Tagen seines Gymnasiumbesuchs zugelegt hatte, war ihm zur Gewohnheit geworden.
    Er erkannte seine Schwester kaum wieder. 1914 war sie ein zehnjähriges Kind gewesen, jetzt war sie eine sechzehnjährige junge Frau. Ihr goldbraunes lockiges Haar war zu einem häßlichen Knoten zusammengebunden, ihre schönen haselnußbraunen Augen waren jetzt rot gerändert und ihr kleines, schmales Gesicht verschwollen und fleckig. Daniel schickte sie weg, um ihren Koffer zu packen, dann wandte er sich an den Butler.
    Â»Ich möchte den Hausherrn sprechen.«
    Der Butler erhob zitternd Einwände, doch als Daniel einen Schritt näher auf ihn zuging, lief er hastig davon, um seinen Arbeitgeber zu suchen.
    Der Hausherr war ein runzliger Mann von etwa fünfzig Jahren. Daniel sagte zu ihm: »Sie werden meiner Schwester ein Zeugnis schreiben.«
    Als er mit höhnischem Lächeln ablehnte, fügte Daniel ganz ruhig hinzu: »Oder ich spreche mit Ihrer Frau, wenn Ihnen das lieber ist. Und wenn auch das Sie nicht stört, schreibe ich einen hübschen Brief an die Zeitung in Ely.«
    Â»Verleumdung ist strafbar, Captain Gillory. Oder haben Sie davon noch nichts gehört?«
    Â»Dann bringe ich Sie eben um«, antwortete Daniel. »Es macht mir nichts aus, Sie umzubringen – schließlich habe ich schon viele Leute getötet. Für König und Vaterland und all das. Tatsächlich würde mir das Spaß machen.«
    Das Zeugnis wurde geschrieben, und Nell wurde aus dem Haus geführt. In einer Teestube in der Cathedral Close kaufte ihr Daniel ein Mittagessen.
    Â»Du siehst so erwachsen aus, Danny«, sagte Nell, den Mund voller Lammkotelett. »So alt.«
    Â»Du hast dich kein bißchen verändert.« Daniel betrachtete seine Schwester. »Immer noch das gleiche nervtötende Balg.«
    Zum erstenmal lächelte Nell. »Ach, Danny.« Sie berührte seine Hand. »Es ist so schön, dich zu sehen.«
    Er nahm ihre Hand in die seine. Sie war mit dem ersten Gang fertig, also bestellte er Pudding für sie. Als sie aufgegessen hatte, fragte er vorsichtig: »Dir geht’s doch gut, Nell? Ich meine – du bist doch nicht in Schwierigkeiten?«
    Sie wurde rot und schüttelte den Kopf. »Ich hab mich nicht von ihm anrühren lassen. Obwohl er’s oft genug versucht hat.«
    Ein tiefes Gefühl der Erleichterung überkam ihn. Nach dem Mittagessen führte Daniel seine Schwester durch die Geschäfte und kaufte ihr ein paar billige Schmuckstücke. Später spazierten sie durch die Kathedrale. Er war nie gläubig gewesen, aber das Gebäude war kühl, hoch und weit. Es beruhigte ihn.
    Er ließ Nell im Haus einer Freundin zurück und ging allein nach Drakesden. Es gab noch immer keine Busverbindung, und für ein Taxi hatte er kein Geld. Sein Bein hatte zu schmerzen begonnen, aber er achtete nicht darauf, als er den langen, vertrauten Weg über die Felder und Deiche einschlug. Das Dorf war so wenig verändert, daß er

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