Die geheimen Jahre
Männer respektierten Mädchen nicht, die ihnen nachliefen. Vor allem Männer wie Daniel Gillory nicht. Daniel war ein Gentleman â er sprach wie ein Gentleman, hatte die Manieren eines Gentlemans, und das erste Mal, als sie ihn traf, trug er die Uniform eines Offiziers. Aber das Beste von allem war, daà er irgendwo auf dem Land eine kleine Farm besaÃ. Also gehörte er zu den grundbesitzenden Edelleuten. Phyl war schrecklich neidisch gewesen, als Fay ihr davon erzählte.
Weil Daniel Gillory die beste Partie war, die sich Fay seit langer Zeit geboten hatte, war sie sehr vorsichtig. Männer wie Daniel waren inzwischen rar â Gentlemen, die noch all ihre GliedmaÃen und vollständige Geisteskraft besaÃen. Als Fay am Ufer der Serpentine ihr Taschentuch fallen lieÃ, wuÃte sie, daà seit dem Krieg die Möglichkeiten für Mädchen wie sie immer geringer geworden waren. Sie wuÃte, daà sie hübsch und klug war, und sie wuÃte, daà sie etwas Besseres verdiente als einen Arbeiter oder einen Büroangestellten oder irgendeinen alten Krüppel, dem ein Bein oder der Verstand fehlte. Sie wollte Geld und ein anständiges Leben. Das stand ihr zu.
Daniel gegenüber bezeichnete sie ihr Zuhause immer als »meine Pension«. Sie dachte, das klänge besser, erwachsener. Sie wollte nicht, daà er das kleine Reihenhaus in Kilburn mit dem schmutzigen Hinterhof und den vollgestopften, häÃlichen Zimmern sah. Ihr eigenes Zimmer hielt Fay immer hübsch in Ordnung. Jeden Tag ging sie mit dem Staublappen herum, und sie wusch ihre Bettwäsche und Handtücher selbst.
Die Stelle in Kensington hatte sie bekommen, weil sie ordentlich und intelligent war. Sie hatte sich eine gute Aussprache angewöhnt und machte nicht die Fehler wie ihre Mutter. Sie achtete darauf, daà ihre Strümpfe keine Löcher hatten, ihre Bluse immer makellos gebügelt und ihre Schuhe immer geputzt waren. Am Morgen stand sie früh auf, um sich anzuziehen und die lange Fahrt ins Zentrum von London zu machen. Sie verzichtete lieber aufs Frühstück, als schlampig zur Arbeit zu erscheinen. Deswegen stand ihr Daniel ihrer Meinung nach zu.
In der Garderobe von Chantalâs Damenmoden überprüfte Fay ihr Aussehen, bevor sie den Laden verlieÃ. Sie trug den marineblauen Rock, die weiÃe Bluse und die scharlachrote Schleife im Haar. Fay puderte ihre Nase und prüfte, ob ihre Strümpfe in Ordnung waren. Als sie aus dem Laden trat, sah sie, daà Daniel auf der StraÃe auf sie wartete. Sie blieb einen Moment stehen und betrachtete ihn durch die Glastür: Daniel Gillory war zweifellos attraktiv. Auf den rückwärtigen Sitzen im Kino oder bei einem ihrer Picknicks im Park hatte sie zuweilen gespürt, daà sie schwach zu werden drohte. Nicht zu sehr, natürlich â den Fehler hatte sie schon einmal gemacht und bereute ihn. Männer hielten nichts von Mädchen, die leicht zu haben waren. Und vor allem: Sie heirateten einen nicht, wenn man leicht zu haben war.
»Hallo, Daniel.«
Er beugte sich hinunter, um sie zu küssen, und sie hängte sich bei ihm ein.
»Wohin sollen wir gehen?«
»Hast du Hunger?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine Kollegin hatte Geburtstag, deshalb haben wir alle Kuchen gegessen. Es gibt aber einen Film, den ich gern sehen würde.«
Sie spürte seine Nervosität, war aber zu müde, um viel reden zu wollen. Manchmal wollte er ihr von seinen Kriegserlebnissen erzählen, aber es gelang ihr immer geschickt, das Thema zu wechseln. Sie wollte nichts von Gas, Leichen und scheuÃlichen Verletzungen hören. All das war endgültig vorbei, und auÃerdem sollte ein Mann nicht erwarten, daà sich ein Mädchen derlei anhörte. Obwohl es ein lauer Abend war, hielt sie es für besser, in der Dunkelheit eines Lichtspieltheaters zu sitzen und sich von ihm küssen und umarmen zu lassen. Das machte ihn gewöhnlich ein biÃchen weniger zappelig.
Sie sahen sich Daddy Langbein an, den Fay bereits dreimal gesehen hatte. Zusammen mit den anderen Liebespaaren saÃen sie in der letzten Reihe, und Fay rechnete sich aus, daà sie nur einen Bruchteil des Films zu sehen bekäme. Daniel schien an diesem Abend noch etwas stürmischer und ungeduldiger zu sein, und Fay kam ihm entgegen. Doch gleichzeitig ging er äuÃerst behutsam und zärtlich vor, was es um so schwieriger machte, ihm zu
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