Die geheimen Jahre
konnte.
Wenn sie Clive nicht sah, begann sie, sich nach Arbeit umzusehen, weil ihr die sinkenden Zuschauerzahlen der Revue Sorgen machten. Bei den beiden Vortanzterminen hatte sie kein Glück: Beim einen wollte man dunkelhaarige Mädchen, beim zweiten sollte sie abgesehen von einem durchsichtigen Tüllfetzen nackt posieren. Sie wollte nicht nach London zurück. Es wäre wie eine Niederlage gewesen. Nur sich selbst gestand Thomasine ein, daà ihre Zukunftspläne inzwischen auch Clive einschlossen. Sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam durch Europa reisten, von einem Theater zum anderen tingelten und ihre Liebe in der unsteten Glitzerwelt eine feste Konstante blieb.
Jeden Abend sah Thomasine in den Zuschauerraum hinaus, sah die vielen leeren Plätze und registrierte den mageren Applaus. Jeden Tag sah sie die Theaterzeitungen und die Stellenanzeigen durch. Clive war sich immer noch unsicher, was seine zukünftigen Pläne anging. In Gegenwart von anderen schenkte er ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Wegen der Anstandsdame, behauptete Clive â Verbindungen zwischen den englischen Tänzerinnen und den Schauspielern und Sängern waren strikt verboten. Sie waren kein Paar in dem Sinn, wie die Hauptdarstellerin und der erste Tänzer ein Paar waren. Sie war nur ein Mitglied der Tanzgruppe, das vielleicht mit einem Kopfnicken im Korridor bedacht wurde, manchmal nicht einmal das. Sein Mangel an Aufmerksamkeit verletzte sie und demütigte sie zuweilen. Doch wenn sie allein waren, zeigte sich Clive charmant, witzig und rücksichtsvoll.
Sie glaubte, daà sich mit der Zeit alles ändern würde. Sie wuÃte, daà das Schauspielerleben einen schlechten Ruf hatte und ausgesprochen unbeständig war. Auch wenn sie in ihren dunkelsten Momenten an seiner Zuneigung zweifelte, wuÃte Thomasine, daà sie noch nie jemanden so sehr geliebt hatte wie Clive Curran. Mit der Zeit fiele es Clive sicherlich leichter, seine Gefühle offener zu zeigen. Mit der Zeit würden sie sich verhalten wie andere Paare. Sie würden im Faubourg St-Honoré Schaufensterbummel machen oder auf dem Marché aux Puces nach Schnäppchen suchen. Sie würden im Bois de Vincennes Picknicks veranstalten oder eine Bootsfahrt die Seine hinunter machen. Sie wären stolz, zusammen in der Ãffentlichkeit gesehen zu werden, sie würden sich nicht mehr verstecken, als wäre ihre Liebe etwas Schändliches.
Paris im Frühling war der passende Hintergrund für ihre Liebesgeschichte. Jeden Tag schien die Sonne strahlender, und an den Bäumen, die die Boulevards säumten, sprossen hellgrüne Blätter. Die Liebeslieder der Revue drückten in ihrer Banalität alles aus, was Thomasine empfand. Sie konnte nicht essen und nicht schlafen. Sie verlor an Gewicht, so daà alle ihre Kostüme enger gemacht werden muÃten. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie ein neues Gesicht vor sich: blaÃ, glänzende Augen, ohne Reste von kindlicher Pausbäckigkeit. Die Männer schauten ihr auf der StraÃe nach, Verehrer schickten ihr Rosen in die Garderobe.
Anfang Mai trafen Nicholas und Lally in Paris ein. Nicholas fuhr seinen neuen Delage; Lally kniete auf dem Beifahrersitz, umklammerte mit einer Hand die Tür, hielt mit der anderen ihren Hut fest und sah sich um.
»Da ist die Seine â und schau, Nicky â der Eiffelturm!«
Nicholas konzentrierte sich aufs Fahren und grinste sie an. Der Wagen fuhr sich wunderbar. Seit den frühen Morgenstunden waren sie unterwegs und durch die üppig grünen Täler der Loire gebraust.
»Ist es nicht herrlich?« rief Lally.
»Herrlich«, stimmte Nicholas zu.
Er hatte die letzten sechs Monate des Kriegs in Paris verbracht. Wenn er sich jetzt umblickte, sah er, daà sich alles verändert hatte. Auf den StraÃen herrschte geschäftiges Treiben, in den Cafés drängten sich die Passanten. Während der Bombenangriffe von 1918 hatte sich die Zivilbevölkerung in den Kellern unter der Stadt versteckt. Wie Schmetterlinge, die aus ihren Kokons geschlüpft waren, zeigten sich die Menschen jetzt in hellen, leuchtenden Farben: In lavendel-, zitronen-, pink- und limonenfarbene Seidenstoffe gekleidet, versammelten sie sich unter den Markisen der StraÃencafés.
»Unmengen Kleider«, schwärmte Lally, als sie die Mädchen in ihren Sommergarderoben anstarrte. »Ich werde Unmengen von Kleidern kaufen. Du
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