Die geheimen Jahre
daà es vielleicht besser wäre, ihre Jungfernschaft an einen Mann von vierzig zu verlieren als an einen zwanzigjährigen. Zumindest wüÃte dann wenigstens einer von ihnen, was sie tun muÃten.
»Lally.« Nicholas berührte ihre Schulter. Lächelnd wandte sie sich zu ihm um. Es war seltsam für sie, gebraucht zu werden â sowohl ungewohnt als auch unerwartet. Sie war noch nie gebraucht worden, aber seit sie Lady Maryâs verlassen hatte, wuÃte sie, daà Nicholas sie brauchte.
»Lally â sieh nur.«
Sie folgte der Richtung seines Blicks. Es waren zwei Gruppen im Café: die der Blythes und eine gröÃere von Leuten in der anderen Ecke des Lokals. Aufmerksam sah Lally die Fremden an.
»Es sind Engländer.«
»Ja«, erwiderte Nicholas ungeduldig. »Siehst du nicht? Sieh noch mal hin â das rothaarige Mädchen.«
Lally bemühte sich. Sie war ziemlich kurzsichtig und muÃte die Augen ein wenig zusammenkneifen. Sie entdeckte eine bezaubernde dunkelhaarige Frau, etwa zehn Jahre älter als sie, und einen gutaussehenden Mann. Ein paar weitere Männer und zwei blonde Mädchen. Dann sah sie die Rothaarige. Ihr Haar war kurz geschnitten, umrahmte ihr rundes Gesicht, und ihr gerader Pony reichte bis zu den Augenbrauen. In diesem Moment beschloà Lally, sich einen Bubikopf schneiden zu lassen. Mama wäre entsetzt. Sie kniff erneut die Augen zusammen.
Nicholas beugte sich über ihre Schulter und sagte: »Das ist Thomasine Thorne, Lally. Erinnerst du dich nicht?«
Natürlich erinnerte sie sich. Wie konnte sie das je vergessen? Sie glaubte ihm zuerst nicht, weil Nicholas einst in Thomasine verliebt gewesen war und seit dem Krieg öfter Dinge sah, die nicht existierten. Anstatt der Schrecken des Krieges beschwor er jetzt eben eine andere Erinnerung herauf. Dann sah sie ihn an und entdeckte, daà sein Gesicht nicht den üblichen starren, bewegungslosen Ausdruck hatte. Nicholas hatte sich erhoben, schlängelte sich zwischen den Tänzern hindurch und schob die roten und blauen Luftschlangen beiseite, die von der Decke hingen, als er den Raum durchquerte. Das rothaarige Mädchen sah zu Nicholas auf, als er bei ihr angekommen war, und Lallys Finger klammerten sich um ihr Glas, als sie sah, daà es tatsächlich Thomasine Thorne war.
»Wir sind vor drei Wochen hier angekommen«, sagte Nicholas. »Ich bin mit meiner Schwester und meiner Cousine hier. Sie erinnern sich doch an Lally, Miss Thorne?«
Natürlich erinnerte sie sich an Lally. Lally hätte einen Kittel und Zöpfe tragen sollen, aber statt dessen trug sie ein Kleid, das mindestens zehnmal soviel gekostet hatte wie Thomasines, und ihr langes schwarzes Haar war in lockeren Schnecken um die Ohren gelegt.
»Und das ist meine Cousine Isabel. Und Sie müssen Julian und Ettie ⦠und Boy kennenlernen â¦Â«
Sie hätte Nicholas Blythe fast nicht wiedererkannt, dachte Thomasine. Die Jahre hatten ihn älter werden lassen und die letzten kindlichen Spuren aus seinen Zügen getilgt. Er war immer groà gewesen, aber die jugendliche Schlaksigkeit war jetzt einer stärkeren und muskulöseren Statur gewichen. Seine Kleider waren gut geschnitten, seine Haut tief gebräunt, aber seine Augen waren noch genauso, wie sie sie in Erinnerung hatte: das gleiche intensive Dunkelbraun.
»Sie sehen groÃartig aus, Nicholas. Wie schön, Sie zu sehen.«
» Sie sehen umwerfend aus, Thomasine. Aber das war ja schon immer so.«
Sie hielt sein Kompliment für echt, sie glaubte nicht, daà Nicholas Blythe zu einer Unaufrichtigkeit imstande war. Sie rückten die Tische zusammen, so daà die Blythes neben den Theaterleuten Platz nehmen konnten â ein langer Tisch von Feiernden, abseits der Musiker und Tanzenden auf der anderen Seite des Cafés.
»Sie müssen mir erlauben, Sie alle auf einen Drink einzuladen.« Nicholas begann, Geld aus seinen Taschen zu ziehen, und setzte sich neben Thomasine, als der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen.
»Heute ist der neunzehnte Geburtstag meiner Schwester«, fügte er hinzu. »Was für ein herrliches Geschenk, Sie wiederzusehen, Miss Thorne.«
Thomasine stellte die übrige Gesellschaft vor â Poppy, Alice, Clara Rose, Clive und ein halbes Dutzend anderer Leute. »Für uns ist es keine echte Feier«, erklärte Thomasine. »Eher eine Totenklage. Unsere
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