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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Thomasine sofort ins Badezimmer, wo sie sich heftig übergeben mußte. Sie versuchte, so leise wie möglich zu sein, um nicht auf ihre späte Heimkehr aufmerksam zu machen.
    Danach wusch sie sich mit kaltem Wasser das Gesicht, setzte sich an die Wand gelehnt auf den Boden und legte den Kopf auf die Knie. Sie mußte sich den Magen verdorben haben, dachte sie. Schon am vergangenen Morgen war ihr schlecht gewesen, und seitdem hatte sie kaum mehr etwas gegessen. Die Cocktails während des Abends hatten ihr nicht geschmeckt, aber sie hatte gehofft, sie würden ihr helfen, sich besser zu fühlen. Was nicht der Fall war.
    Schließlich stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Alices Bett war immer noch leer, die Fenster waren angelehnt, die Läden geöffnet. Die frühe Morgensonne fiel auf das Durcheinander aus Kleidern, Bändern, Puder und Kämmen, das über die Kommode verstreut war. In ein paar Stunden müßte sie wieder im Theater sein. Nie war ihr weniger nach Tanzen zumute gewesen. Doch sie versuchte, sich zu erinnern, was Clive an diesem Abend zu ihr gesagt hatte, sich den genauen Wortlaut zu vergegenwärtigen, um ihn nach Anzeichen von Verbindlichkeit oder Zuneigung zu überprüfen. Ein quälender Stich durchfuhr sie, als sie feststellte, daß er nicht einmal gesagt hatte, daß er sie liebe.
    Marcel brachte Lally in sein Appartement auf der Rue St. Honoré. Die Wände seines Schlafzimmers waren mit Trompe-l’œil-Gemälden – Arkaden in Meergrün und Gold – bemalt und anmutig mit bunten Pfauenfedern und Sonnenblumen geschmückt. Die Vorhänge waren geschlossen. Der Raum war dunkel und nur von ein paar kleinen goldenen Lampen beleuchtet.
    Lally ging in dem Zimmer umher, strich beiläufig über eine kleine Statue, ein Bücherregal und eine Jugendstillampe. Sie nahm eine Fotografie vom Toilettentisch.
    Â»Meine Frau«, sagte Marcel. »Sie hält sich im Moment auf meinem Schloß in der Touraine auf. Sie erwartet unser fünftes Kind. Stört Sie das?«
    Lally stellte die Fotografie zurück. »Sollte es?«
    Â»Sie sind sehr jung. Und Sie sind Engländerin.« Er half ihr aus dem Mantel. Sie spürte, daß er ihren Nacken küßte. »Junge Mädchen können sehr romantisch sein, ma chère Lally.«
    Â»Ich bin überhaupt nicht romantisch. Und ich dachte, Sie könnten mir behilflich sein, mich ein bißchen weniger jung und ein bißchen weniger englisch zu fühlen.«
    Er lachte. »Das wäre mir ein Vergnügen.«
    Erneut küßte er ihren Nacken. Er war einen Kopf größer als Lally, die mit knapp einem Meter sechzig offensichtlich zu wachsen aufgehört hatte. Sie sah sie beide im Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers: seine Hände, die auf ihren Schultern ruhten, sein kurzer dunkelgrauer Bart, der in seltsamem Kontrast zu ihrer weißen Haut stand. Sie hob die Hand und griff an die Spitzen ihrer abgeschnittenen Haare.
    Â»Finden Sie, daß es mir steht?«
    Auch Marcel sah in den Spiegel. Lally freute sich, daß seine Antwort nicht schnell und verlogen kam, daß er sich Zeit zum Nachdenken ließ.
    Â»Sie hätten es vielleicht noch kürzer schneiden können. So.« Seine Hände hoben ihren kurzen Schopf an, so daß er gerade bis unterhalb der Wangenknochen reichte. »Die Farbe des Kleids ist gut – die kurzen Ärmel stehen Ihnen, aber der Ausschnitt ist zu kahl. Im großen und ganzen würde ich sagen, daß eine so junge Frau wie Sie einfache Kleider tragen sollte – aber Sie, Mademoiselle Blythe …« Er runzelte die Stirn. Als er fortfuhr, begann er die Knöpfe am Rücken von Lallys Kleid zu öffnen. »Sie werden nie schön sein, aber sie haben etwas an sich, daß interessanter ist als Schönheit. Sie sind vielleicht ein bißchen verdorben. Ein bißchen …«
    Â»Dekadent«, beendete Lally den Satz. Sie lächelte.
    Ihr Kleid war zu Boden gefallen, wo es lavendelblau schimmernd liegenblieb. Als sie ihre weißen Glieder und die Schwellung ihres Bauchs und Busens unter dem Unterrock betrachtete, dachte sie, daß die Jahre ihres Exils im Internat immer noch sichtbar waren.
    Â»Sie runzeln die Stirn«, sagte Marcel. »Was bedrückt Sie, Lally?«
    Sie drehte sich zu ihm um. »Daß ich die Schule besuchen mußte. Es war ein schrecklicher Ort. Und das Essen …« Sie strich mit

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