Die geheimen Jahre
daà Miss Thorne nicht mehr mit Nicholas tanzte, sondern mit dem gutaussehenden Sänger über die Tanzfläche glitt. Lally überkam eine Woge der Erleichterung, als sie beobachtete, wie der Sänger seine Lippen auf Thomasines Mund drückte.
»Das wärâs«, sagte Marcel und legte die Schere weg. »Sie sehen épatante aus, Mademoiselle Blythe.«
Sie lächelte. »Würden Sie mich einen Moment entschuldigen, Monsieur de Seignelay?«
Sie überquerte die Tanzfläche. Lally bemerkte, daà Thomasines grünes Kleid aus billigem Stoff war. Ihre bunten indischen Perlen gab es an jedem Marktstand zu einem Penny das Dutzend zu kaufen. Als sie noch einmal einen Blick auf das Paar warf, glaubte sie, daà Miss Thorne in den gutaussehenden Sänger verliebt war. Clive war sein Name, wie sie von jemandem gehört hatte.
Nicholas tanzte mit Belle. Lally flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er nickte und murmelte etwas. Er war ein biÃchen betrunken.
Genau wie sie. Als sie zu Marcel zurückging, wuÃte sie, daà sie das Ganze nicht durchgestanden hätte, wenn sie nicht ziemlich beschwipst gewesen wäre. Sie war vielleicht auf der Suche nach neuen Erfahrungen, aber sie fürchtete sich auch davor. Es war, als müÃte sie sich beständig auf die Probe stellen und immer wieder einen Blick in den Abgrund riskieren.
»Ich bin ein biÃchen müde. Würden Sie mich nach Hause bringen, Monsieur de Seignelay?«
Marcel legte ihr den Seidenschal um die Schultern. Als sie das Café verlieÃen, sah Lally, daà auf den Dächern und Türmen von Paris ein rosiger Hauch lag.
»Ins Hôtel de Crillon, nicht wahr, Mademoiselle?«
Sie drehte sich zu ihm um und spürte die Leichtigkeit ihres kurzen Haars. »Eigentlich fände ich es besser, wenn ich mit Ihnen nach Hause ginge. Und würden Sie mich bitte Lally nennen?«
Nicholas bemerkte kaum, daà Lally das Café verlieÃ. Er konnte es immer noch nicht glauben, daà er nach der langen Trennungszeit Thomasine in Paris wiedergefunden hatte. Er fürchtete fast, sie könnte wieder verschwinden und sei nur eine angenehmere Erscheinung seines Einbildungswahns. Er beobachtete sie voller Verlangen und wartete, daà der salonlöwenhafte Schauspieler aufhörte, mit ihr zu tanzen. Er hatte nicht vor, sie noch einmal zu verlieren.
Als der Tanz vorbei war, trat Nicholas an ihre Seite. »Es ist spät«, sagte er. »Ich würde Sie gern nach Hause begleiten.«
Thomasine blickte verblüfft zu ihm auf. Er sah, wie bleich sie war, wie dunkel die Ringe um ihre Augen schimmerten. Aber sie war noch genauso schön, wie er sie in Erinnerung hatte. Das lohfarbene Haar, die meergrünen Augen, die makellose Haut. Obwohl der vergangene Krieg so vielen Schaden zugefügt hatte, schien sie die einzige zu sein, die unversehrt davongekommen war.
»Ihre Schwester �« fragte Thomasine.
»Lally ist schon gegangen. Haben Sie genug?«
Sie nickte. Sie durchquerte den Raum, nahm einen Seidenschal von einem Stuhl und legte ihn um die Schultern. Nicholas folgte ihr auf die StraÃe hinaus. Die Vögel in den Platanen sangen, und der Himmel war hell geworden.
»Ich komme zu spät«, sagte sie und ging sehr schnell.
Nicholasâ schlechte Laune war verflogen. In dem kleinen Café auf dem Montmartre waren die Bilder der Schlammfelder von Flandern nicht wieder in ihm aufgestiegen. Flüchtig kam ihm der Gedanke, daà Thomasine seine Alpträume abgewehrt hatte.
Am Eingang eines Hauses blieb sie stehen und suchte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Nicholas prägte sich die Hausnummer und den StraÃennamen ein.
»Ich darf Sie doch wiedersehen, Thomasine?«
Sie erwiderte seinen Blick. Ihre Augen waren groà und dunkel. Er fand, daà sie krank aussah.
»Natürlich, Nicholas.«
Fast hätte er die Hand ausgestreckt und sie berührt, fast hätte er sie in die Arme genommen. Aber die Formen seines Standes und seiner Erziehung waren ihm zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, um Spontaneität zu zeigen. Die Blythes küÃten und umarmten sich nicht, auÃer wenn es ihnen befohlen wurde. AuÃerdem hatte sie sich schon abgewandt.
»Es war nett, Sie wiederzusehen, Nick. Gute Nacht.«
»Bis bald«, antwortete Nicholas und blieb noch zehn Minuten reglos auf der StraÃe stehen, nachdem sie gegangen war.
In der Pension ging
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