Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
und schienen mit der Realität nichts zu tun zu haben.
    Sie spazierte am Friedhof von Montmartre entlang. Der Mond und die Lichter der Straßenlaternen beschienen die Grabsteine, die Statuen und die Bäume. Ein silberner Hauch lag auf den Familiengräbern, den prunkvollen Häusern der Toten. Als sie die Augen zusammenkniff, um im Dunkeln die Straßenschilder lesen zu können, kam sie darauf, wie vergeblich all ihre Träume gewesen waren. Wie dumm und naiv! Unzureichend gewappnet, war sie in die Welt hinausgezogen, ausgerüstet mit den überholten Moralvorstellungen und der Unwissenheit einer vergangenen Generation.
    Als sie über den Pigalle ging, zuckten die hellen Reklamen der Nachtklubs und Theater im Dunkeln auf und warfen grell orangefarbene, grüne und blaue Schatten. Flüchtig sah sie eine Frau in einer Gasse, und im Flackern einer Straßenlaterne erkannte sie die billigen Kleider und den resignierten Ausdruck in den schwarzumrandeten Augen. Ein Mann rief Thomasine etwas zu, und sie ging mit hochgeschlagenem Mantelkragen und starr vor sich hin blickend weiter, um die ordinären Bilder an den Eingängen der Bars nicht sehen zu müssen.
    Sie entdeckte das Straßenschild und sah auf den Zettel in ihrer Hand hinab. Dann ging sie die Straße hinunter und suchte rechts und links nach der Hausnummer. Sie fand sie an der Ecke einer kleinen Gasse. Es war ein Mietshaus mit vielen Wohnungen, und die Namen der Bewohner standen in verblichener Tinte auf einer Reihe ausgefranster Karten neben der Eingangstür. Nur ein paar Fenster im Haus waren beleuchtet, aber Thomasine konnte sehen, daß die Scheiben mit Staub und Spinnweben überzogen waren. Der Lack an den Fenstersimsen und Türen war aufgesprungen und splitterte ab. Die Gasse führte bergauf, und das Licht aus den Fenstern spiegelte sich schwach auf dem feuchten Kopfsteinpflaster. Eine abgemagerte schwarzweiße Katze huschte über die Stufen und rieb den Kopf an Thomasines Bein.
    Sie sah auf ihre Uhr. Zwanzig nach zehn. Noch zehn Minuten zu warten. Sie zog sich in die Schatten der Gasse zurück und lehnte sich gegen eine Wand. Allmählich ließen sich die Geräusche aus dem Haus von denen der Nacht unterscheiden. Ein Paar stritt sich in einem der oberen Räume, ein Kind stöhnte im Schlaf. Die Katze miaute in der Abgeschiedenheit der Gasse. Abfall, welkes Laub und leere Weinflaschen türmten sich in den Rinnsteinen. Die Minuten verstrichen, und sie war allein. Bald würde sie die Stufen dieses Hauses hinaufsteigen, an die Tür klopfen, und in einem schäbigen Zimmer würde eine Fremde sie von ihrem Bastard befreien. Wie, wußte sie nicht. Sie ertrug es nicht, darüber nachzudenken.
    Es war halb elf. Thomasine überquerte die Gasse, stieg die Stufen hinauf und stand mit geballter Faust an der Tür. Aber plötzlich wurde sie von einer schrecklichen, namenlosen Furcht überwältigt. Sie, die Furcht kaum kannte, wurde fast niedergedrückt davon. Sie konnte es nicht tun, ihre Hände weigerten sich, an die Tür zu klopfen. Eine Erinnerung, die sie jahrelang verdrängt hatte, kam wieder zurück: Sie selbst als kleines Mädchen, durch eine verdorrte und fremde Landschaft reitend, ihr kleines Geschwisterchen auf den Rücken geschnallt. Damals hatte sie auch Angst gehabt: daß sie sich verirren würde, daß das Baby sterben könnte, weil sie allein war.
    Sie drehte sich um und begann schnell zu laufen – in die Pension zurück.
    Â»Du hast es nicht getan? Was soll das heißen, du hast es nicht getan?«
    Â»Ich hab’s nicht über mich gebracht, Alice. Es tut mir leid, aber ich hab’s einfach nicht geschafft.« Während Alice sie anstarrte, als sei sie wahnsinnig geworden, war Thomasine nicht in der Lage, den Abscheu zu erklären, der in der schmutzigen Gasse über sie gekommen war.
    Â»All die Mühe, die ich mir gemacht hab!« Alice war außer sich. »Du weißt doch hoffentlich, daß das, wozu ich dir verhelfen wollte, verboten ist? Daß wir beide in einem dreckigen französischen Gefängnis hätten landen können? Und das Geld  …«
    Â»Das bezahl ich dir zurück, sobald ich kann, Alice.« Sie zitterte und hielt noch immer ihren Mantel eng um sich geschlungen.
    Alice war im Morgenrock und warf Kleidungsstücke in einen Koffer. »Womit denn? Woher willst du denn Geld kriegen? Womit willst du dich und

Weitere Kostenlose Bücher