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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Zwischenzeit stattgefunden hatten. Sie wußte nur, daß Alice die ganze Zeit bei ihr geblieben war, mit ihr gesprochen und viele Tassen Tee gebracht hatte. Die Teetassen standen alle auf der Kommode aufgereiht. Sie konnte nichts trinken. Sie fühlte sich taub, kaum in der Lage zu sehen, zu hören und zu denken. Vor allem unfähig zu denken.
    Alice löste Thomasines verkrampfte Finger und drückte ihr ein Glas in die Hand. »Trink aus, Liebes. Vielleicht tut es dir gut, und wenn nicht, hilft es dir, den Bastard zu vergessen. Oh, tut mir leid, ich meinte …«
    Es war natürlich kein Baby, sondern ein Bastard. Eines der Dienstmädchen auf der Chalk Farm hatte einen Bastard gehabt. Thomasine hatte gehört, wie in dem Laden in Drakesden über sie gesprochen wurde. Natürlich hatte man zu reden aufgehört, als Thomasine den Laden betrat, aber sie hatte das häßliche Wort aufgeschnappt. Bastard. Damals wußte sie nicht, was es bedeutete. Jetzt wußte sie es.
    Sie hob das Glas und trank. Der Gin brannte in ihrer Kehle, setzte aber ihr Gehirn wieder in Gang. »Was meinst du mit einer anderen Möglichkeit?«
    Â»Nun.« Alice goß sich etwas Gin in ihr Zahnputzglas und leerte es in einem Zug. »Manche Mädchen versuchen’s mit Gin und einem heißen Bad, aber ich hab nie gehört, daß es geholfen hätte. Oder mit Flohkraut für einen Shilling. Clemmie hat das probiert, aber es ist ihr bloß schlecht geworden. Ich hab von einer Frau gehört, die Karbol benutzt hat, aber …«, sie verzog das Gesicht und sah zur Decke. »Um das Baby loszuwerden, meine ich, Liebes.«
    Â»Um es loszuwerden?« Ihre Stimme zitterte.
    Alice sah sie abwehrend an. »Na, was willst du denn sonst machen, nachdem dein Liebhaber fort ist? Zu Tantchen zurückgehen?«
    Thomasine kauerte auf dem Bett, legte den Kopf auf die Knie und kniff die Augen zusammen. Sie sah sich mit dikkem Bauch zu Antonia nach Teddington zurückkehren, ohne einen Ring am Finger. Oder zu Tante Hilly, die gerade geschrieben hatte, daß sie ein geeignetes Haus für ihre Schule gefunden hatte.
    Â»Nein. Natürlich nicht. Das wäre ganz unmöglich.«
    Â»Dann gibt’s noch das Arbeitshaus«, sagte Alice. »Heime für gestrauchelte Mädchen. Die werden dort wie Sträflinge behandelt.«
    Thomasine erschauderte. Sie war einmal bei einem Gottesdienst in Ely gewesen, an dem die Mädchen aus dem Arbeitshaus teilgenommen hatten. Alle trugen die gleichen groben Kleider, Schürzen und Hauben, und ihr Haar war straff aus den schmalen, niedergeschlagenen Gesichtern gekämmt. Sie schüttelte den Kopf.
    Alice goß weiteren Gin in ihr Glas. »Trink aus. Ich hab fast eine halbe Flasche, und man weiß ja nie, vielleicht hilft’s ja doch. Ich laß dir ein heißes Bad einlaufen. Wenn’s nicht wirkt – nun, eines der Mädchen in der Bar hat mir den Namen einer Frau genannt, die dir möglicherweise helfen kann. Aber dafür müßtest du bezahlen.«
    Thomasine nickte. Sie hatte das Gefühl, in einem Land mit anderen Regeln zu sein. Die Regeln ihrer Kindheit – die schlichten ehrlichen Regeln, die Rose und Hilda Harker sie gelehrt hatten – hatten keine Geltung mehr. Diese Regeln mochten in Drakesden funktionieren, hier funktionierten sie nicht. Wenn ihre Tanten sie jetzt sehen könnten, dachte sie: in einer heruntergekommenen Absteige, unfrisiert und ungepflegt und Glas um Glas Gin in sich hineinstürzend. Um das Kind zu töten, das sie für die Frucht ihrer Liebe gehalten hatte. Dann dachte sie an Clive und wie er sie sitzengelassen hatte. Thomasine ließ sich auf die Seite fallen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
    Der Gin und das heiße Bad hatten nicht die erhoffte Wirkung, ihr wurde nur furchtbar schlecht, und sie bekam entsetzliche Kopfschmerzen. Mittags kam Alice mit einem Zettel aus dem Café zurück, auf den eine Adresse gekritzelt war. Indem sie sich von Alice Geld lieh, das weiße Kleid an eine Sängerin im Café verkaufte und ihre letzten Münzen zusammenkratzte, schaffte es Thomasine, die nötige Summe aufzubringen. Sie bekam einen Termin. Mutterseelenallein ging sie eines späten Abends durch die Straßen von Montmartre. Das Mondlicht tauchte die Dächer und Kamine der Häuser in einen unwirklichen Glanz. Die Geräusche aus den Bars und Cafés wirkten fern und unheimlich

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