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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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das Balg ernähren? Hast du darüber nachgedacht?«
    Thomasine schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht an die Zukunft gedacht und nichts zurückgelegt. Sie besaß nichts, um sich durchzubringen. Ihr Glaube, sie wäre in der Lage, mit dem Tanzen weiterzumachen, war Selbsttäuschung gewesen, das war ihr jetzt klar – schwanger oder mit einem kleinen Kind könnte sie ihren Beruf nicht ausüben.
    Â»Na schön, ab jetzt bist du auf dich selbst gestellt«, sagte Alice schneidend. Sie setzte sich auf ihren Koffer, um ihn zu schließen. »Ich fahre morgen in aller Frühe fort – ich hab eine Stelle gefunden. Ich muß mich schließlich um mich selbst kümmern. Ich hab versucht, dir zu helfen, Thomasine, aber wenn du dir nicht helfen läßt …«
    Alice stieg ins Bett und knipste das Licht aus. Thomasine saß auf der Bettkante, starrte ins Dunkle, und ihre Gedanken irrten umher wie ein Tier, das aus einer Falle zu entkommen versucht. Aber sie sah nur Sackgassen und unüberwindliche Hindernisse vor sich.
    Früh am Morgen und immer noch wütend, verabschiedete sich Alice kühl. Als sie fort war, wirkte das Zimmer leer, und die Ärmlichkeit ihrer Habseligkeiten flößte ihr Angst ein. Eine leere Börse, ein paar Kleider, Schreibpapier und Stifte. Poppy hatte Paris am Tag zuvor verlassen. Die meisten der englischen Mädchen hatten Arbeit gefunden oder waren bereits nach Hause zurückgefahren. Sie war allein in einem fremden Land.
    Thomasine zog sich schnell an und ging hinaus, weil sie die Stille des Zimmers nicht mehr ertrug. Die Pension müßte sie ohnehin aufgeben, weil sie kein Geld für die Miete hatte. Sie schlug keine bestimmte Richtung ein, stand aber schließlich vor der weiten glitzernden Wasserfläche der Seine. Das Sonnenlicht schien sie zu verhöhnen, denn es konnte die Schrecken der vergangenen Nacht nicht auslöschen.
    Ganz Paris war in die Ferien gefahren, daher gab es keine Boote voller gutgelaunter Touristen, die den Fluß entlangfuhren, und nur wenige Fähren. Der Jardin des Tuileries lag hinter ihr, vor ihr überspannte die Pont Royal den Fluß zum linken Ufer. Thomasine ging über die Brücke, blieb etwa in der Mitte stehen und legte die Arme aufs Geländer. Unter ihr glänzte das tiefe, glatte Wasser. Sie stellte fest, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben keine Ahnung hatte, wohin sie gehen sollte. Früher – auf dem Schreckensritt zum Missionshospital, auf der langen Reise von Afrika nach Drakesden und Jahre darauf auf dem Weg nach London – hatte sie immer ein Ziel vor Augen gehabt. Jetzt aber war sie vollkommen ziellos. Jetzt saß sie in der Falle und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte.
    Anfang August begannen sie, Paris zu verlassen: zuerst Jean-Luc, dann Ettie, dann Julian und Belle und schließlich Boy.
    Nicholas verfolgte ihre Abreise mit einem gutverborgenen Unbehagen. Er war nicht gern allein. Obwohl Lally offiziell immer noch im Hôtel de Crillon wohnte, sah Nicholas immer weniger von ihr. Diesen Morgen hatte sich auch Lally verabschiedet. »Im Moment ist kein Mensch mehr in Paris«, erklärte sie ihm. »Und Marcel hat ein ganz reizendes Haus in Le Touquet. Komm doch mit.«
    Nicholas erklärte Lally nicht, warum er zögerte, Paris während der toten Jahreszeit zu verlassen. Er blieb wegen Thomasine, weil Thomasine ihm etwas gab, das er für immer verloren zu haben glaubte. Ihre Stärke gab ihm Kraft: Ihre Energie und Vitalität wirkten ansteckend und ersetzten, was der Krieg ihm geraubt hatte. Sie gab ihm ein Ziel. Zusammen mit ihr schaffte er es, einige der zerstörerischen Angewohnheiten aufzugeben, die ihn während der letzten Jahre aufrechtgehalten hatten, in ihrer Gegenwart haßte er sich nicht so sehr. Er war überzeugt, wenn er bei Thomasine bleiben konnte, wenn er für lange Zeit nicht nach Drakesden zurückkehren mußte, konnte er die Scherben aufsammeln und wieder zu etwas zusammensetzen, was ansatzweise einem Mann glich.
    Am Morgen spazierte er zu Thomasines Pension. Gerade als er in die enge Straße einbog, sah er sie ein paar Meter entfernt vor sich, als sie die Haustür aufsperrte. Er rief ihren Namen, und sie fuhr herum.
    Â»Nick.«
    Er bemerkte ihre Blässe, ihre eingefallenen Augen. Panik befiel ihn. Tuberkulose, dachte er, aufgrund des Lebens, das sie führte – die langen Nächte, die

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