Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
flammenden Wangen ins Gebäude zurück. Als ich die Tür aufschob und in den hinteren Flur trat, war dort weder eine Person noch eine Kerze zu sehen.
Ich lag bis zum Morgengrauen wach, wurde wie auf einer aufgewühlten, unruhigen See hin und her geschleudert. Wieder und wieder zog die Szene im Garten an meinem geistigen Auge vorüber, ich erinnerte mich an jedes Wort, das Monsieur gesprochen hatte, und daran, wie sich seine Lippen auf den meinen angefühlt hatten. Monsieur war ein Mann von tadellosem Ruf, von großer Rechtschaffenheit und Prinzipientreue. Ich gab mir größte Mühe, mir einzureden, dass weder ich noch er etwas Schlimmes getan hatten. Doch er war auch ein stürmischer und liebevoller Mann. Ich hatte gesehen, wie er Freunde und Schüler in ähnlicher Manier küsste, und hatte mir nichts dabei gedacht. Dies waren eben die Gewohnheiten der Franzosen. Sein Kuss war nur ein Zeichen seiner Hochachtung gewesen, freundlich gemeint und ansonsten bedeutungslos. Inzwischen hatte er ihn sicherlich vergessen – und das musste mir auch gelingen. Alles würde so weitergehen wie bisher. Wir würden Freunde bleiben wie bisher. Als wäre nichts geschehen.
Am nächsten Morgen wurde mir jedoch eine Nachricht von Madame überbracht:
10. April 1843
Mademoiselle Charlotte,
mein Gatte und Monsieur Chappelle haben mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass ihre zunehmenden Verpflichtungen es ihnen zu ihrem Bedauern nicht mehr erlauben, Ihre Dienste als Englischlehrerin weiterhin in Anspruch zu nehmen. Sie danken Ihnen für Ihre bisherigen Bemühungen, die ihnen beiden großen Nutzen gebracht haben.
Außerdem mangelt es meinem Mann leider an Zeit, Ihnen weiterhin Französischstunden zu geben, wenn Sie auch selbstverständlich nach wie vor mit Ihrer Schreibklasse fortfahren und all Ihren Verpflichtungen als Lehrerin nachkommen können.
Ich verbleibe
Mme Claire Zoë Héger
Ich war erschüttert und entsetzt. Sollte es wirklich so enden – dieser überstürzte Abbruch der Englischstunden, die sich für beide Seiten als so erfreulich und befriedigend erwiesen hatten? Ich mochte nicht glauben, dass dies Monsieurs Wunsch war. Nach allem, was er am letzten Abend gesagt und getan hatte, warum sollte er dann ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählen, um unseren Privatunterricht zu beenden? Gewiss steckte Madame dahinter. Sie musste am Fenster gestanden und uns beobachtet haben. Vielleicht hatte sie noch vor mir gespürt, was meine wirklichen Gefühle für ihren Mann waren. Vielleicht war sie eifersüchtig. Eifersüchtig auf mich! Wie lächerlich!
Von diesem Tag an begegnete ich Monsieur Héger kaum einmal allein, wenn ich ihn überhaupt sah. Hörte ich am Ende einer Unterrichtsstunde seine Schritte auf dem Korridor näher kommen und eilte hinaus, um ihn zu begrüßen, so war er stets wie durch Zauber in einer Wolke aus Zigarrenrauch verschwunden. Roch ich bei einem Spaziergang im Garten einen Hauch dieses würzigen Aromas und machte mich auf die Suche nach der Quelle, so hatte sich diese stets auf wundersame Weise in Luft aufgelöst. Kam er während der Studierzeit in den Speisesaal und schaute ich erwartungsvoll auf, so tauchte sofort immer auch sie auf, zwei Schritte hinter ihm, und zauberte ihn fort.
Da ich jetzt aus seiner Gegenwart verbannt war, wurde jederBlick, den ich auf ihn erhaschen konnte, mir umso kostbarer. Nun bestand meine einzige Verbindung zu Monsieur Héger in den korrigierten Aufsätzen, die ich in meinem Pult fand, und den Büchern, die er mir immer noch nachts freundlicherweise dort hinlegte – nun aber ohne freundliche begleitende Worte. Diese Bücher waren meine einzige Freude und mein einziges Vergnügen. Nie wieder bekam ich die Uhrkette zu sehen, mit der ich mir solche Mühe gegeben hatte. Das Muschelkästchen, das ich ihm geschenkt hatte, war auch verschwunden; wenn er unter seinen Schülerinnen Bonbons herumreichte, befanden diese sich stets in der alten Bonbonniere.
Als mich Monsieur Héger doch einmal zufällig allein im Schulzimmer antraf, runzelte er die Stirn und sagte äußerst verärgert und mit einem finstern Blick unter seinen borstigen dunklen Augenbrauen hervor: »Ich bemerke, dass Sie sich sehr abseits von allen halten, Mademoiselle. Madame meint, sie sollten sich mit den anderen Lehrerinnen anfreunden. Ein wenig allgemeine Menschenfreundlichkeit und guter Wille Ihrerseits könnte von größtem Nutzen sein, denke ich.« Mit diesen Worten ging er fort.
Ich verspürte nicht den
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