Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
dann. Ich wusste, dass er es war. Ich wartete. Er holte mich ein und ging neben mir her. »Ein wunderschöner Abend, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur.« Wir schlenderten weiter. Seine Kleidung strömte das vertraute würzige Aroma aus. »Wo ist Ihre Zigarre, Monsieur?«
»Ich habe sie ausgemacht. Nichts sollte den Duft der Frühlingsblüten beeinträchtigen.« Er atmete tief ein und lächelte. »Nun, da ich sehe, dass Sie mir bei diesem Spaziergang Gesellschaft leisten, bin ich doppelt froh, dass ich sie nicht mitgebracht habe, denn ich weiß ja, wie wenig Sie sie mögen.«
»Ich habe mich an Ihre Zigarre gewöhnt, Monsieur. Ich habe sogar ihr Aroma schätzen gelernt, denn es erinnert mich an Sie.«
»Dann wedeln Sie die Bücher, die ich Ihnen leihe, jetzt nicht mehr vor dem Fenster herum?«
»Ich würde es nicht wagen, Monsieur, denn ich fürchte, Sie kämen dann wie ein Racheengel herbeigeeilt und würden versuchen, mir meinen Schatz zu entreißen.«
»Ihren Schatz? Ich höre gern, dass Sie meine kleinen Leihgaben so sehen.«
»Die Bücher, die Sie mit mir geteilt haben – sie bedeuten mir die Welt. Dass Sie sich die Zeit nehmen, an mich zu denken, eine bloße Schülerin an Ihrer Schule und eine von Ihnen beschäftigte Lehrerin – das ehrt mich, Monsieur.«
»Eine bloße Schülerin an meiner Schule und eine von mir beschäftigte Lehrerin?«, rief er und schüttelte verärgert den Kopf. Dann wandte er sich zu mir um und zwang mich, vor ihm stehen zu bleiben, während er mir voller Zuneigung in die Augen schaute. »Wir sind für einander sowohl Schüler als auch Lehrer gewesen, Mademoiselle. Aber Sie müssen wissen, dass Sie mir sehr viel mehr als das bedeuten. Sie sind meine Freundin, Mademoiselle, eine Freundin fürs Leben.«
Ein Hochgefühl ergriff mich, wie ich es noch nie zuvor empfunden hatte. Eine Freundin fürs Leben. Bei diesen Worten hatte uneingeschränkte Zuneigung in seinem Blick gelegen. Plötzlich wurde mir wie in einem Rausch klar, wie tief die Gefühle waren, die ich für diesen Mann hegte. Früher einmalhatte ich mich vor ihm gefürchtet. Mit der Zeit hatte ich gelernt, ihn zu ehren und zu respektieren. Später schätzte ich ihn als Freund. Nun, das wurde mir jetzt klar, waren meine Gefühle tiefer geworden und hatten sich gewandelt: Ich liebte ihn. Ich liebte ihn.
Oh, dachte ich, als ich das Gesicht abwandte und erstarrte, während Verwirrung sich meiner bemächtigte. Wie konnte das sein? Wie konnte ich Monsieur Héger lieben? Er hatte eine Ehefrau, eine Familie, denen er treu ergeben war, wie sich das gehörte, ein häusliches Leben, dessen Teil ich niemals sein konnte. Monsieur Héger zu lieben, das war unrecht – unrecht – und verstieß gegen alles, was angemessen, moralisch und anständig war! Wie konnte ich es nur zugelassen haben, dass mir meine Gefühle so entglitten?
Mit wild pochendem Herzen versuchte ich verzweifelt, diese so weitreichende Offenbarung zu begreifen. Wenn ich Monsieur Héger liebte, gab es dafür nur eine Rechtfertigung: Ich liebte ihn nicht wie eine Braut, die ihren Bräutigam liebte; nein, ich liebte Monsieur Héger nur wie eine Schülerin, die ihren Lehrer liebt. Ich hatte ihn zu meinem Götzen gemacht. So wie ein geringeres Wesen ein Götzenbild aus der Ferne verehrt, so hatte auch ich es nicht nötig, dass meine Liebe erwidert wurde. Ich war völlig mit dem zufrieden, was er mir geben konnte, ja, ich musste mit der reinen und schlichten Freundschaft zufrieden sein, die er mir großzügig anbot. So versuchte ich schweigend, meine Lage zu beurteilen, und diese Gedanken beruhigten mich und besänftigten mein Gewissen. Doch dann kam mir ebenso plötzlich eine andere Erkenntnis und mit ihr eine solche Bürde von Schmerz und Leid, dass sie mir die Tränen in die Augen trieb.
»Warum weinen Sie, Mademoiselle? Ich habe gerade gesagt, dass Sie meine Freundin fürs Leben sind.«
»Und Sie mein Freund fürs Leben, Monsieur«, sagte ich leise und mit brechender Stimme.
»Und das macht Sie traurig?«
»Nein, Monsieur. Es ist etwas anderes, das mich trauern lässt.«
»Was ist das?«
»Es ist das Wissen, dass ich eines Tages Brüssel verlassen muss, Monsieur.«
»Aber England ist doch Ihr Zuhause. Ihre Familie lebt dort. Sie werden doch sicherlich froh sein, wieder dorthin zurückzukehren?«
»Ja. Aber Brüssel, dieses Pensionat ist nun seit über einem Jahr mein Zuhause. Ich habe hier ein herrliches Leben. Hier habe ich es von Angesicht zu Angesicht mit einem
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