Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Schublade war zu, das Nähkästchen stand geschlossen an der richtigen Stelle. Und Madame grüßte mich mit einem kühlen und gefassten Nicken.
»Ich habe Ihre Waschschüssel und die Kanne durch eine neue ersetzt, Mademoiselle. Ich habe gesehen, dass sie angeschlagen waren. Auf Wiedersehen.« Mit diesen Worten rauschte sie an mir vorüber und aus dem Schlafsaal.
Liebes Tagebuch: Als ich danach an Ellen und meine Familie schrieb, deutete ich an, was ich zu erleiden hatte und wie isoliert ich mich fühlte und dass Madame mich nicht mehr zu mögen schien. Ich erklärte ihnen, ich könnte mir nicht vorstellen, warum ich die gute Meinung dieser Frau verloren hatte, die mich mit so freundlicher Zuneigung eingeladen hatte, nach Brüssel zurückzukehren. Was sonst hätte ich schreiben sollen? Ich konnte
ihnen
doch nicht eingestehen, was der wahre Grund für Madames geändertes Verhalten war. Vor mir selbst vermochte ich diesen Grund allerdings nicht zu verbergen. Ich kannte ihn! Meine Dienstherrin verdächtigte mich und vielleicht auch ihren Ehemann, dass wir füreinander Gefühle hegten und dass wir Dinge taten, die ihrer ganzen Natur nach niederträchtig und verwerflich waren und unsere Seelen mit Schmach bedeckten – ein Verdacht, der gänzlich unbegründet war.
Gewiss, ich liebte Monsieur Héger. Das konnte ich nicht leugnen. Aber ich hatte keinerlei Absichten auf ihn, ich wünschte ihn nicht für mich zu gewinnen. Ich wünschte mir nur die Freude zurück, die mir unsere geistige Verbindung gebracht hatte. Meine Zuneigung zu ihm, so schlicht und anspruchslos, wie sie war, konnte doch Madame keinen Schadenzufügen! Sicherlich, überlegte ich, wenn ich nur ein wenig länger wartete, wenn ich ihr nur beweisen konnte, dass ich keine Gefahr für sie darstellte, würde sie begreifen, dass sie sich geirrt hatte, und alles würde wieder so werden wie früher.
Die Zeit verging, jedoch ohne eine Veränderung zum Guten. Der August kam. Prüfungen wurden abgehalten, Preise wurden verteilt. Am 17. August war die Schule zu Ende, die Schülerinnen fuhren nach Hause, und die langen Sommerferien begannen.
Am Abend, bevor die Familie abreiste, schenkte mir Monsieur Héger (ich nehme an, ohne das Wissen oder die Zustimmung seiner Gattin) ein weiteres Buch, eine zweibändige Ausgabe der Werke von Bernardin de Saint-Pierre, von dem er hoffte, »es würde mir helfen, mich während der vor mir liegenden einsamen Tage zu beschäftigen«. Mit welcher Dankbarkeit ich diese seltene Gabe begrüßte! Aber wie prophetisch waren seine Worte!
Oh, wie ich bebe, wenn ich mich an diese schrecklichen, langen Ferien erinnere!
In diesem Jahr waren keine Schülerinnen im Pensionat geblieben. Das Schulgebäude war leer. Außer der Köchin und mir war niemand da. Ich wünschte mir verzweifelt, ich könnte nach Hause fahren, aber es war mir nicht möglich, für einen kurzen Besuch eine so lange und teure Reise zu unternehmen. Noch nie zuvor waren mir jedoch fünf Wochen derart endlos erschienen.
Dieser Sommer war vollkommen anders als der im Vorjahr, als Emily und ich jeden Augenblick unserer freien Zeit miteinander genossen hatten. Diesmal hallten die Räume der Schule einsam und hohl wider. Die beiden Reihen mit Laken abgedeckter Betten im Schlafsaal schienen mich mit ihrer Leerezu verspotten wie höhnische Gespenster. Meine Stimmung, die seit April immer trübseliger geworden war, erreichte nun ihren tiefsten Stand. Da mir jetzt jegliche Beschäftigung und Gesellschaft genommen war, schien mir das Herz beinahe in der Brust abzusterben. Ich aß allein. Ich versuchte zu lesen oder zu schreiben, fand aber meine Einsamkeit zu bedrückend. Wenn ich die Museen besuchte, kam in mir kein Interesse an den Bildern auf.
Die ersten Wochen waren heiß und trocken, dann änderte sich das Wetter. Zur Tagundnachtgleiche tobte eine ganze Woche lang ein Sturm. Ich war wie gefangen in dem riesigen, leeren Haus, in dem die Fenster klapperten und um das der Wind heulte. Spät eines Nachts, als ich das wütenden Brausen nicht mehr ertragen konnte, riss ich das Fenster neben meinem Bett auf und kletterte aufs Dach hinaus. Von dort beobachtete ich, durchnässt bis auf die Haut und vom Sturm zerzaust, das Schauspiel in all seiner Pracht. Der Himmel war schwarz und ungestüm und voller Donner und wurde ab und zu von blendend weißen Blitzen durchschnitten.
Während ich so zuschaute, betete ich zu Gott: Er möge mich von meinem gegenwärtigen Elend und meiner Einsamkeit
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