Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Eindruck mitteilen?«
»Bitte, Monsieur.«
»Ich finde bemerkenswert, was Sie schreiben. Ich glaube, dass Sie den Funken des Genies in sich tragen.«
Mir stockte der Atem. »Des Genies, Monsieur?«
»Ja, und ich glaube, dass aus diesem Genie mit etwas mehr Übung etwas sehr Wertvolles werden kann.«
Meine Gedanken klammerten sich an dieses einzige Wort. Genie. Mein Leben lang hatte ich geglaubt, eine gewisse Begabung zu besitzen, ein Geschenk, das auch andere Mitglieder meiner Familie mitbekommen hatten, das aber bisher unerkannt und ungeschätzt geblieben war. Nun meldete sich die starke Triebfeder des Ehrgeizes mit voller Macht zurück. Das Gefühl pulsierte durch alle meine Adern. Doch etwas störte mich auch. »Wenn ich wirklich Genie besitze, Monsieur –
falls
ich es besitze –, sind dann all diese Anleitung und diese Übungen notwendig? Warum diese endlosen Aufsätze, in denen ich die Ausdrucksweise anderer Schriftsteller nachahmen musste? Warum kann ich dann nicht einfach schreiben, was ich will?«
»Es ist unerlässlich, sich mit der Form zu beschäftigen. Ohne Form ist man kein Dichter. Durch sie werden Ihre Arbeiten weitaus eindringlicher.«
»Aber Lyrik – ist das nicht der getreue Ausdruck von etwas, das in der Seele geschieht oder geschehen ist?«
»Das könnte man sagen, ja.«
»Und ist nicht das Genie etwas Angeborenes, ein Gottesgeschenk?«
»Unbestreitbar ist es eine Himmelsgabe.«
»Dann glaube ich, dass dieses Genie seiner ganzen Natur nach ungestüm und wagemutig sein muss«, erwiderte ich, »und dass es genauso funktionieren sollte wie der Instinkt – ohne eingehendes Studium, ohne langes Nachdenken.«
»Genie ohne Überlegung ist wie Kraft ohne einen Angriffshebel, Mademoiselle. Es ist nichts als eine Seele, die ihr inneres Lied mit rauer und heiserer Stimme zum Ausdruck bringt. Es ist ein Musiker, der der Welt auf einem verstimmten Klavier nicht die süßen Melodien vorspielen kann, die er in seinem Inneren hört. Es ist wie diese Jugendwerke, Mademoiselle.« Er lehnte sich zu mir vor, neigte sein Gesicht zu meinem und schaute mir in die Augen. »Die Natur hat Ihnen eine Stimme gegeben, Mademoiselle. Aber Sie lernen erst jetzt, wie Sie diese Stimme einsetzen, sie in Kunst umwandeln können. Und Sie sollten eine Künstlerin werden. Lernen Sie weiter, seien Sie beharrlich, dann werden Sie wahre Größe erlangen. Ihre Werke werden die Zeiten überdauern.«
Mein Herz pochte heftig, teils wegen seiner Nähe, mehr noch jedoch unter dem Eindruck seiner Worte. Es war, als hätte sich mir eine ganze neue Welt aufgetan. Ich spürte, wie eine freudige Wärme mich durchdrang, meine Brust erfüllte und mir wie die Hitze der Sonne ins Gesicht stieg.
In jenem Augenblick ging die Tür der Bibliothek auf, und Madame Héger trat ein. Ihr Blick fiel auf ihren Mann und mich in dieser Situation. Sie erstarrte.
Monsieur Héger richtete sich auf und zog ganz wie beiläufig an seiner Zigarre. »Madame?«
Ihre Blicke trafen sich. »Mir war nicht bewusst, dass du gerade unterrichtest«, erwiderte sie kühl.
»Ich habe nur Mademoiselle Charlotte weise Ratschläge bezüglich ihrer Zukunft und ihres Schreibens gegeben.« Zu mir gewandt, fügte er hinzu: »Wir sind fertig, Mademoiselle. Sie können gehen.«
Ich verließ mit immer noch rasendem Herzen, unverzüglich das Zimmer. Madame wandte den Blick ab und trat einen Schritt zur Seite, um mich vorbeizulassen.
Bebend vor Erregung kam ich aus Monsieur Hégers Bibliothek. Ich musste fort, um meine Gedanken an all dem zu ergötzen, was er gesagt hatte. Ich rannte nach oben, nahm meinen Umhang und sauste in den Garten.
Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen, ringsum war es kühl und still. Ich stand auf dem Rasen und atmete die klare Nachtluft, die nach dem Aprilregen frisch und sauber duftete. Über mir glitzerte der Sternenhimmel mit einem leuchtenden Mond, dessen Licht auf die winzigen weißen, aufbrechenden Blütenknospen fiel, mit denen die dunklen Zweige an den Bäumen im Obstgarten übersät waren. Während ich über den Mittelweg spazierte, erfreute sich mein Herz an den fröhlichen, zirpenden Melodien der Grillen und der lebhaften Mischung der Geräusche aus der umliegenden Stadt, die wie das sanfte Rauschen eines fernen Ozeans an mein Ohr brandeten.
Ich hörte, wie ein Türriegel hochgezogen wurde, und sah, dass die Hintertür des Pensionats lautlos aufschwang. Jemand trat in den Garten, blieb kurz stehen und näherte sich mir
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