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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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Wunsch, mich mit den anderen Lehrerinnen anzufreunden. Ich hatte es versucht, und es war mir misslungen. Monsieurs gereiztes Benehmen trug auch nicht gerade dazu bei, meine Lage zu klären. Als er mich im Garten geküsst hatte, hatte er doch ein Gefühl für mich zum Ausdruck gebracht – ich hatte es gespürt! ich hatte es gesehen! –, selbst wenn es nur Freundlichkeit gewesen war. Wohin war all diese Zuneigung verschwunden? War Monsieur zornig und mied mich, weil er wegen dieses Kusses Gewissensbisse hatte? Fürchtete er, mit einem kurzen Kuss eine Grenze überschritten oder mir einen falschen Eindruck von seinen Gefühlen vermittelt zu haben? Spürte er
meine
Gefühle und fürchtete,sie würden zu einer stärkeren Flamme angefacht, wenn ich auch nur die geringste Berührung mit ihm hätte? Oder befolgte er lediglich den Befehl seiner Frau, nichts mehr mit mir zu tun zu haben?
    Madame verdoppelte meine Pflichten, übertrug mir die Verantwortung für den gesamten Englischunterricht der Schule, wofür ich eine kleine Gehaltserhöhung erhielt. Es blieb mir so nur wenig Zeit für irgendetwas anderes. Ich war dazu verdammt, den lieben langen Tag die muffige Luft des Schulzimmers zu atmen, wo ich mich damit beschäftigte, die Grundzüge der englischen Sprache in die Gehirne belgischer Mädchen zu pauken. Am Abend war ich unter einem Berg von Aufsätzen vergraben, die ich zu lesen und zu korrigieren hatte.
    War diese zusätzliche Verantwortung eine »Belohnung«, wie Madame es behauptete, oder eher eine Strafe? Berichten zufolge pries Madame anderen gegenüber meine Arbeit in den höchsten Tönen. Sie war weiterhin höflich zu mir, aber oft ertappte ich sie dabei, wie sie mich im Korridor oder über den Tisch im Speisesaal hinweg anstarrte, und dann ließ mir der Ausdruck in ihren umschatteten blauen Augen das Blut in den Adern gerinnen. Es war, als versuchte sie stumm meine Seele zu ergründen. Selbst in Madames Abwesenheit hatte ich das Gefühl, der Gegenstand genauer Beobachtung durch Mademoiselle Blanche zu sein, die jede meiner Bewegungen zu überwachen schien.
    Als ich mich eines Nachmittags wegen eines heftigen Kopfschmerzes früher aus einer Klasse zurückzog und mich in den Schlafsaal begab, um mich dort auszuruhen, nahm ich hinter dem Vorhang, der mein Privatquartier abtrennte, einen Schatten wahr. Dann hörte ich, wie vorsichtig eine Schublade geöffnet wurde. Bestürzt trat ich auf leisen Sohlen näher; wenn ichmich ein wenig seitlich stellte, konnte ich durch einen Spalt zwischen den Vorhängen schauen.
    Ich sah, dass die Besucherin – oder sollte ich sagen: die Spionin? – Madame Héger war. Sie stand vor meiner kleinen Kommode und erkundete kühl und methodisch den Inhalt der obersten Schublade und meines Nähkästchens. Entsetzt und wie vom Donner gerührt, vermochte ich mich nicht von der Stelle zu bewegen. Ich sah zu, wie sie nacheinander alle Schubladen aufzog. Sie schaute auf die Vorsatzblätter sämtlicher Bücher, sie nahm den Deckel von jedem noch so kleinen Schächtelchen ab, sie widmete vor allem jedem Brief und jedem Zettel besondere Aufmerksamkeit, faltete anschließend alle sorgfältig wieder zusammen und legte sie an ihren Platz zurück. Empörung und Wut übermannten mich, und doch wagte ich nicht, mich bemerkbar zu machen. Es würde nur eine Szene geben, wir würden in einen heftigen Streit geraten, und ich würde Dinge sagen, die ich später bereuen würde und die darauf hinausgelaufen wären, dass man mich aus meiner Stellung entließ.
    Ihre nächste Handlung schmetterte mich vollends nieder: Sie nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und machte sich daran, die große Kleiderschublade unter meinem Bett aufzuschließen! Sie zog ein Kleid daraus hervor und kämmte alle Taschen durch, drehte es förmlich auf links. Da dämmerte es mir: Madame musste sich eines Nachts, während ich schlief, hereingeschlichen und meine Schlüssel ausgeborgt haben, um einen Wachsabdruck anzufertigen. Wie lange, fragte ich mich, ging diese Überwachung wohl schon?
    Nun legte sie das Kleid zurück und begann, meine anderen Sachen zu durchsuchen. Ihre Finger ergriffen das Taschentuch, das mir Monsieur Héger einst gegeben hatte, einen Schatz, den ich sorgfältig gebügelt und zusammengefaltet hatte. Daswar zu viel! Ich musste der Sache ein Ende setzen! Ich räusperte mich, gewährte ihr einen Augenblick, um der Peinlichkeit die Spitze zu nehmen, und zog dann den Vorhang zur Seite. Diese unglaubliche Frau! Die

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