Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
einem Lächeln entlassen, als ich in der Tür beinahe mit Mr. Nicholls und John Brown zusammengestoßen wäre.
»Gehen Sie morgen Abend zum Oratorium in die Kirche?«, fragte John Brown gerade. »Da sollen wir einen gefeierten Tenor, einen gewissen Thomas Parker, zu hören bekommen, der mit Mrs. Sunderland aus Halifax und einer großen Schar von Musikern und Chorsängern auftritt.«
»Niemals würde ich mir den Gesang eines Baptisten anhören«, spottete Mr. Nicholls, während er zur Seite trat, um mich vorbeizulassen.
Ich konnte über seine Worte nur den Kopf schütteln. Tatsächlich weigerten sich die Hilfspfarrer, die Anhänger von Pusey waren, in das Konzert zu gehen. Bei dieser Veranstaltung war das Gotteshaus bis zum Bersten gefüllt, und sie sollte sich als eine der wunderbarsten des Jahres herausstellen. Als ich die herrliche Musik hörte, die an jenem Abend in der Kirche erklang, dachte ich wieder, dass Mr. Nicholls eben ein engstirniger Scheinheiliger sei. Warum um alles in der Welt sollte mir etwas daran liegen, was für eine Meinung er von mir hatte? Ich hatte mir keinen wirklichen Fehler zuschulden kommen lassen; er dagegen sehr wohl. Ich sagte mir: Denke nur an Bridget Malone, wer sollte sich denn da so sehr schämen, dass er den Kopf nicht hoch halten kann? Doch sicher Mr. Nicholls und nicht du!
Damit gab ich mich zufrieden. Wenn mir Mr. Nicholls keine Achtung mehr entgegenbrachte, so war das weder meinFehler noch mein Problem, denn ich hatte ihn niemals gemocht oder geachtet. Ich würde ihm einfach weiterhin aus dem Weg gehen.
Das war aber leichter gesagt als getan. Er wohnte ja nebenan. Er traf sich jeden Tag mit Papa. Er hielt alle drei Sonntagsgottesdienste und beaufsichtigte die Schulen. Er war einfach überall. Ganz im Gegenteil, Mr. Nicholls’ häufige Besuche im Pfarrhaus gaben Anlass zu einem erschreckenden Gerücht, das mir zum ersten Mal in einem Brief von Ellen bekannt wurde. Sie teilte mir mit, jemand hätte sich mit großer Feierlichkeit und höchstem Interesse bei ihr erkundigt, ob es stimmte, dass Mr. Nicholls und ich heimlich verlobt wären! Ich widersprach dem natürlich unverzüglich, aber dieser Brief verstörte mich noch wochenlang.
Eines Nachmittags Mitte März wurde jedoch mein Entschluss, von Mr. Nicholls nur schlecht zu denken, auf eine harte Probe gestellt. Es war ein klarer, kalter Tag, nicht mehr richtig Winter, aber auch noch nicht ganz Frühling. Anne und ich machten gerade Besuche bei den armen Familien, um ihnen die Kinderkleider zu bringen, die wir in den vergangenen Monaten für Bedürftige genäht hatten.
Zuerst gingen wir in die Häuser, die sich entlang der Hauptstraße des Dorfes drängten. Diese Aufgabe schätzten wir nicht sonderlich, denn obwohl die Leute freundlich waren, so lebten doch sehr viele Menschen in diesen Häusern, es war oft sehr schmutzig, und die Luft war so schlecht, dass wir uns kaum überwinden konnten, uns länger als eine Minute dort aufzuhalten. Angenehmer waren dann unsere Besuche bei den Gemeindegliedern, die weiter vom Ortskern entfernt wohnten – bei den Fabrikarbeitern im Tal und den armen Bauern, die mit Mühe und Not dem Boden ihren Lebensunterhalt abrangen.
Anne und ich machten uns unter dem herrlichen Dach des strahlend blauen Himmels in diese Richtung auf. Der Wind strich durch die unbelaubten Äste der verstreut stehenden Bäume. Schneeverwehungen, die an den Hängen und in den Tälern noch in einigen Vertiefungen liegengeblieben waren, schmolzen rasch in der Sonne. Schon bald kamen wir zum Häuschen der Ainleys, einem kleinen, weiß getünchten Gebäude mit Strohdach, das ein wenig abseits der Straße lag.
Drei der acht Kinder der Ainleys, die noch zu klein waren, um in die Schule zu gehen, spielten draußen. Sie trugen verschiedene alte, schlecht passsende und ziemlich zerlumpte Kleidungsstücke. Als Anne und ich uns der Haustür näherten, umringten uns die Kleinen, machten viel Getöse und Geschrei, zupften an unseren Röcken, zogen an den Körben und fragten uns, was wir ihnen mitgebracht hätten. Wir wuschelten ihnen freundlich durch die lockigen Haare, und ich erklärte ihnen, sie müssten sich noch ein wenig gedulden, wir würden zuerst unsere Mitbringsel ihrer Mutter überreichen.
»Ah! Da sind sie ja wieder, die Engelchen, die Damen, die mir was zum Anziehen für die Kleinen bringen«, sagte Mrs. Ainley, die uns, ihr einjähriges Kind an die Hüfte gedrückt, an der Tür empfing und ins Haus bat. Sie war eine
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