Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
gewährte mir traurig, aber gefasst meine Bitte. Am Morgen meiner Abreise wurde ich ins Wohnzimmer der Hégers gebeten, wo Monsieur mir ein Abschiedsgeschenk – eine Anthologie französischer Lyrik – überreichte, dazu noch ein Diplom, das mir die Fähigkeit bescheinigte, eine Schule zu leiten.
»Sie werden es uns wissen lassen, wenn Sie Ihre Schule eröffnet haben, ja?«, sagte Monsieur Héger voller Gefühl, als er sich von mir verabschiedete. »Wir schicken eine unserer Töchter zu Ihnen.«
Madame bestand darauf, mich an jenem 1. Januar 1844 zum Schiff in Ostende zu begleiten, als wolle sie sich vergewissern, dass ich keine Gelegenheit bekäme, meine Entscheidung zu widerrufen. Unter bitteren Tränen sagte ich Belgien Lebewohl, glaubte aber selbst dann noch, dass ich eines Tages zurückkehren würde.
Das habe ich nie getan.
ELF
Als ich zwei Jahre später allein in meinem dunklen Zimmer im Pfarrhaus lag, waren der brennende Schmerz in meiner Brust und das Herzweh noch so frisch und quälend wie am ersten Tag nach meiner Rückkehr aus Belgien. Auch jetzt, zwei Jahre später, war ich noch immer heimlich in einen Mann verliebt, der jenseits des Meeres lebte; in einen Mann, von dem ich stets gewusst hatte, dass er für mich unerreichbar war; in einen Mann, der vor einem Jahr durch das Ausbleiben seiner Briefe (ob aus eigenem Antrieb oder auf Beharren seiner Gattin) bewiesen hatte, dass es nicht einmal möglich war, eine distanzierte Freundschaft aufrechtzuerhalten. Wie lange, überlegte ich, brauchte man wohl, um aufzuhören, einen anderen Menschen zu lieben? Konnte man sich eine solche Liebe entschlossen und dauerhaft aus dem Herzen reißen? Und wenn ja, wie schaffte man das?
Meine Schlafzimmertür öffnete sich, und Emily trat mit einer Kerze in der Hand herein. Ich setzte mich auf, trocknete mir die Tränen und versuchte nach Kräften, wieder Herrin meiner Gefühle zu werden. Meine Schwester ließ sich neben mir auf der Bettkante nieder.
»Charlotte, ich bedaure sehr, was ich Branwell über Monsieur Héger erzählt habe. Ich habe es gut gemeint, aber jetzt ist mir klar, dass ich mit meinem Versuch, ihn zu trösten, dein Vertrauen missbraucht habe. Und es tut mir sehr leid, was ich alles zu dir gesagt habe. Ich habe geredet, ohne nachzudenken. Ich liebe dich, du bist meine liebste Schwester, du bist alles für mich. Ich bin todtraurig, zu sehen, wie sehr meine Worte dich verletzt haben. Ich wollte dir nicht wehtun.«
»Das weiß ich.« Ich streckte die Hand aus, um im flackernden Kerzenschein Emilys ausgestreckte Hand zu ergreifen. Ihre Wangen, das sah ich, waren wie meine von Tränen nass. Emily schlang die Arme um mich, und wir hielten einander einige Augenblicke fest umfangen, und jede fand Trost in der Umarmung der anderen.
Als wir uns wieder voneinander lösten, sagte Emily leise: »Charlotte, erzählst du es mir jetzt? Erzählst du mir, was zwischen dir und Monsieur Héger vorgefallen ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Eines Tages vielleicht.«
Erst als sich am folgenden Morgen Papa beim Frühstück zu mir und meinen Schwestern gesellte, erinnerte ich mich plötzlich voller Beschämung daran, dass er und Mr. Nicholls am vergangenen Abend Branwells und Emilys Anschuldigungen gegen mich mitbekommen hatten.
Nachdem Papa seinen Haferbrei gegessen und ohne ein weiteres Wort in sein Studierzimmer geeilt war, fragte ich: »Haben Papa oder Mr. Nicholls irgendetwas zu dem gesagt, was … was sie gestern Abend gehört haben.?«
»Sie waren so konsterniert, dass sie kaum sprechen konnten«, antwortete Anne und warf mir einen mitfühlenden Blick zu.
»Oh!«, rief ich mit neuer Verlegenheit.
»Mach dir keine Sorgen«, meinte Emily. »Ich habe ihnen gesagt, alles sei ein großes Missverständnis gewesen. Branwell hätte mir die Worte im Munde herumgedreht, und nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Sie haben es sicher schon bald völlig vergessen.«
Emilys Deutung schien mir sehr optimistisch zu sein. Meine Erfahrung war, dass Menschen Anschuldigungen der Art, wie Branwell sie vorgebracht hatte, nicht so leicht vergaßen, selbstwenn sie erwiesenermaßen nicht zutrafen. Mit glühenden Wangen überlegte ich, was wohl Mr. Nicholls jetzt von mir halten mochte. Einige Tage lang schämte ich mich zu sehr, um ihm in die Augen schauen zu können. Doch dann änderte sich dies ganz unerwartet. Ich hatte gerade meinen Unterricht in der Sonntagsschule beendet und meine jungen Schüler mit
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