Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
ihr ein Stück Pappe vor die Stirn, auf das sie das Wort »Schlampe« geschrieben hatte. Mein Herz brannte vor Schmerz und Wut über diese Ungerechtigkeit, aber es sollte noch schlimmer kommen. Zweimal sah ich, wie Maria mit der Rute geschlagen wurde, einem furchterregenden Bündel aus Zweigen, die an einem Ende zusammengebunden waren. Die Angst vor dem stechenden Schmerz, den die Schläge mit dieser Rute verursachten, war für alle Schülerinnen ein großer Anreiz zu pflichtschuldigem Benehmen. Doch Miss Pilcher schien es zu genießen, diese Strafe selbst für die kleinsten Verfehlungen zuverhängen. Ich schaute mit machtlosem Entsetzen zu und zuckte bei allen zwölf scharfen Hieben zusammen, die auf Marias Hals und Nacken heruntersausten. Doch Maria blieb während der gesamten Tortur stoisch ruhig und gestattete sich die Tränen erst später, nachdem sie die verachtete Rute wieder still an ihren Platz gebracht hatte.
Jeden Tag betete ich, dass Papa kommen und uns aus unserem Gefängnis befreien würde. Stattdessen brachte er, als er Ende November kam, die sechsjährige Emily mit, die sich zu uns gesellte. Er blieb nicht lange, und uns waren nur wenige Minuten Gespräch mit ihm gestattet. Ich wollte ihm so viel erzählen, aber Maria hatte mir das Versprechen abgenommen, kein Sterbenswörtchen zu sagen.
Inzwischen hatte Mr. Wilson eine neue Schulleiterin eingestellt. Miss Ann Evans war dreißig Jahre alt, groß und wunderhübsch, sie war stets makellos gekleidet, und sie war eine einfühlsame Natur. Als ich sie bat, Emily zu erlauben, mit mir das Bett zu teilen, damit ich mich besser um sie kümmern könnte, wurde mir das gewährt.
Der Dezember kam. Das Wetter wurde rau und kalt. Wir bibberten in unseren Betten, und das Wasser in den Kannen gefror, sodass wir uns nicht waschen konnten. Früh gefallener tiefer Schnee machte die Straße unbefahrbar, aber man zwang uns trotzdem, jeden Tag eine Stunde draußen in der eisigen Luft des gefrorenen Gartens zu verbringen und jeden Sonntag mehr als zwei Meilen über einen steilen, verschneiten, allen Wettern ausgesetzten Pfad zu Fuß zur Kirche zu gehen. Da wir keine Handschuhe hatten, trafen wir völlig steif gefroren in der Kirche ein. Unsere Hände waren taub und von Frostbeulen übersät, desgleichen auch unsere Füße, denn wir hatten auch keine Stiefel, und der Schnee kroch in unsere Schuhe und schmolz dort.
Völlig durchgefroren und mit nassen Füßen saßen wir im Gottesdienst, der den ganzen Tag andauerte. Am späten Nachmittag stapften meine Schwestern und ich zurück zur Schule, in der langen Reihe niedergeschlagener Mädchen und Lehrerinnen, die violetten Umhänge eng um uns geschlungen, die Augen zu Schlitzen verengt, um uns gegen den bitteren Wind zu schützen, der durch alle Kleidung drang und unsere Wangen peitschte. Nach unserer Rückkehr warteten noch weitere Bibellektüre und eine lange Predigt von Miss Pilcher auf uns, während der Emily und ich und viele der jüngeren Mädchen oft vor Erschöpfung kraftlos von den Bänken auf den Boden sackten.
Maria hatte seit dem Herbst einen leichten Husten, von dem sie behauptete, es sei noch ein Überbleibsel des Keuchhustens. Ende Januar jedoch war der Husten stärker geworden, und Maria wurde immer schwächer und blasser. Dann zog sich Elizabeth bei einer unserer sonntäglichen Wanderungen eine schlimme Erkältung zu und begann gleichfalls zu husten. Einige andere Schülerinnen klagten über ähnliche Leiden, die unsere Lehrerinnen als typische winterliche Erkältungen einstuften. Eines Nachmittags sah ich zu meinem Entsetzen, dass Marias Taschentuch nach einem ihrer Hustenanfälle mit Blut befleckt war. Ich berichtete dies Miss Evans. Sie rief Dr. Batty herbei, der meine Schwester untersuchte.
Als ich wenige Tage später bei der ersten Morgenglocke aufstand, sah ich, dass Maria nicht in ihrem Bett lag. Ich wandte mich an Miss Pilcher, die mir mitteilte, dass Maria in der Nacht in Miss Evans’ Zimmer gebracht worden war.
»Warum?«, fragte ich mit plötzlicher, unaussprechlicher Angst.
»Wir glauben, dass sie an Schwindsucht leidet«, sagte Miss Pilcher knapp und schlug mir die Tür vor der Nase zu.
Ich hatte noch nie etwas von Schwindsucht gehört. Die Besorgnis, die ich in Miss Pilchers Zügen bemerkt hatte, ließ jedoch darauf schließen, dass es keine einfache Kinderkrankheit war, von der sie sich leicht wieder erholen würde. Zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, meine Schwester könnte
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