Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
getröstet hatte, als mir die Zukunft ungewiss erschien. Obwohl Tante Branwell selbstlos ihr heimatliches Cornwall verlassen hatte, zu uns gezogen war und die Verantwortung für uns übernommen hatte, war sie stets eine strenge und fordernde Frau. Wenn es nach unseren Gefühlen ging, so vertrat meine Schwester Maria an uns Mutterstelle, und ich betete sie an.
Elizabeth, die ein Jahr älter war als ich, war auch eine süße Schwester und ein braves Kind, und ich liebte und bewunderte sie beide. Im Gegensatz zu Maria ging Elizabeth mehraus sich heraus. Sie liebte lebhafte Spiele, half gern in der Küche, und damals war ihr größter Traum, eines Tages einmal ein hübsches Kleid zu besitzen.
Alle sechs Kinder hatten wir in jenem Frühjahr Masern und Keuchhusten gehabt. Weil sich Maria und Elizabeth zuerst davon erholten, wurden sie als Erste in der Schule eingeschrieben. Einen Monat später brachte mich Papa hin, damit ich mich zu ihnen gesellte. Ich wusste damals nichts über Schulen, weder Gutes noch Schlechtes. Ich wusste nur, dass ich mit acht Jahren nun endlich etwas von der Welt jenseits meiner unmittelbaren Umgebung sehen sollte, und diese Aussicht war wirklich aufregend.
Die Schule für Pfarrerstöchter befand sich fünfundvierzig Meilen von Haworth entfernt in dem winzigen, abgelegenen Dorf Cowan Bridge. Das große zweistöckige Gebäude aus Stein und Ziegeln stand neben einer Brücke und blickte auf einen Bach und sich endlos hinziehende niedrige, bewaldete Berge. Es war eine ehemalige Spinnerei, die man zur Schule umgebaut hatte. In dem kalten, unwirtlichen Haus war nun im Erdgeschoss ein riesiger Schulsaal mit hohen Decken untergebracht, und darüber ein großer Schlafsaal, in dem mehr als fünfzig Schülerinnen in eng zusammengepferchten Reihen schmaler Betten jeweils zu zweit in einem Bett schliefen.
Der Gründer und Leiter der Schule, der gefeierte Reverend Carus Wilson war ein hoch aufgeschossener schwarzer Marmorklotz mit durchdringenden Augen unter buschigen Brauen. Er erschien oft ohne Vorwarnung im Schulzimmer, worauf alle, Schülerinnen und Lehrerinnen gleichermaßen, in schweigender Ehrerbietung aufsprangen, während er mit majestätischem Gebaren eine lange Litanei von Kritikpunkten vorbrachte, die sich auf die Leistungen und das äußere Erscheinungsbild der Lehrerinnen wie der Schülerinnen bezogen.Zu meinem Entsetzen und zum Kummer und zur Bestürzung meiner Schwestern ließ er einen Barbier kommen, der einige Wochen nach meiner Ankunft ihr wunderschönes, langes Haar absäbelte. Der Hauptzweck seines Besuches im Schulzimmer war jedoch, uns mit strenger Miene die religiöse und moralische Lektion zu erteilen, die er für den jeweiligen Tag für angemessen hielt.
»Ziel dieser Einrichtung«, verkündete Mr. Wilson eines Nachmittags finster, »ist nicht, den Körper zu verzärteln oder euch an Luxus und Wohlleben zu gewöhnen. Diese Einrichtung widmet sich vielmehr ausschließlich eurer geistigen Bildung, denn dies ist der einzig wahre Weg zur Erlösung eurer unsterblichen Seelen.«
Ich hatte bis dahin nicht viel über Himmel und Hölle nachgedacht, aber Mr. Wilsons grimmiger Ansatz mit seiner furchterregenden Androhung der Verdammnis hatte auf mich eine ganz andere als die von ihm beabsichtigte Wirkung. Er erweckte in mir eine leidenschaftliche und lebenslange Abneigung gegen jede religiöse Lehrmeinung, die sich gegen die Freiheit des Denkens und des Ausdrucks wandte.
Unser Tagesablauf in der Schule war streng geregelt. Wir standen jeden Morgen beim Läuten einer Glocke noch im Dunklen auf, zogen uns im dämmrigen, flackernden Schein eines Binsenlichts unsere hoch geschlossenen Kleider aus hellbraunem Baumwollstoff an und banden unsere braunen Leinenschürzen um. Diese Kleidung war für alle gleich, zudem noch unbequem und wenig kleidsam. Auf eineinhalb Stunden langatmige Morgengebete folgte ein ungenießbares Frühstück, und dann begann der Unterricht. Die Lehrmethoden waren mehr als einfach: Die Schülerinnen saßen in Altersgruppen um eine Lehrerin, die ihnen einen Gedanken mündlich vermittelte, den die Mädchen auswendig zu lernenund wie Papageien laut nachzuplappern hatten. Ich fand das zunächst schwierig, da ich wenig Erfahrung mit dieser Lernmethode hatte und mich das vielstimmige Gemurmel der anderen Klassen in dem riesigen, hallenden Schulsaal sehr störte. Schließlich meisterte ich jedoch die Aufgaben, die von mir erwartet wurden. Ich stellte fest, dass Lernen in der Schule
Weitere Kostenlose Bücher