Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
sterben, und Schrecken und Schmerz ergriffen mich.
»Ich
muss
Maria sehen«, sagte ich zu meinen Schwestern, als wir an jenem Morgen zum Speisesaal gingen.
»Wie willst du das schaffen?«, fragte Elizabeth. »Sie ist bei Miss Evans.«
»Dann werde ich sie da finden.«
Als die Lehrerinnen gerade einmal nicht in meine Richtung schauten, stahl ich mich aus der Reihe und zur Tür hinaus. Mit pochendem Herzen flitzte ich den Kiesweg entlang zu dem kleinen Haus, von dem ich wusste, dass es Miss Evans gehörte. Sie ließ mich beinahe wortlos ein, erklärte nur, ich würde meine Schwester im Schlafzimmer finden. Ich ging durch das Wohnzimmer in den nächsten Raum, in dem ich neben dem großen Bett auf einer schmalen Pritsche eine zusammengekrümmte Gestalt erblickte. Voller Entsetzen eilte ich zu ihr. War es Maria? Lebte sie oder war sie tot?
»Charlotte«, sagte Maria mit ihrer sanften Stimme, als ich mich näherte. »Warum bist du hier? Warum bist du nicht beim Frühstück?«
Ich setzte mich erleichtert neben Marias Bett auf einen Schemel. Obwohl sie blass war und ihre Augen fiebrig glänzten, hatte sie sich seit dem Vortag nicht sehr verändert. »Sie haben mir gesagt, dass du krank bist. Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.«
»Das musst du nicht, Charlotte. Miss Evans hat an Papa geschrieben und ihn gebeten, mich nach Hause zu holen.«
»Bin ich froh. Ich werde dich vermissen, aber die frische Luft der Moore wird dich wieder gesund machen.« Ein Hustenanfall schüttelte sie; ich zuckte zusammen, als ich sah, wie viel Kraft sie brauchte, um diese lange Attacke zu ertragen. »Ich wünschte, ich könnte etwas tun, um dir dein Leiden zu lindern.«
»Es gibt etwas. Du kannst mir etwas versprechen.«
»Was?«
»Wenn du hörst, dass ich gestorben bin, versprich mir, dass du nicht trauerst.«
Brennender Schmerz durchfuhr mich. »Maria, du wirst
nicht
sterben.«
»Ich möchte nicht, aber wenn es der Wille des Herrn ist, dass ich sterben soll, dann muss ich das hinnehmen und dankbar für die Zeit sein, die ich auf Erden weilen durfte.«
»Wie kannst du dankbar sein? Du bist doch viel zu jung, um zu sterben!«
»Wir müssen alle einmal sterben. Ich bedaure nur, dass ich nicht mehr Zeit mit Papa und dir und meiner ganzen Familie verbringen kann.«
Mir schossen die Tränen in die Augen. »Hast du große Angst?«, flüsterte ich.
Marias Augen leuchteten mutig und gescheit, als sie leise antwortete: »Nein, ich fürchte mich nicht. Wenn ich sterbe, gehe ich zu Gott. Er wird sich mir in Seinem Himmel offenbaren. Er ist unser Vater und unser Freund, und ich liebe Ihn.«
Wenige Tage später holte Papa Maria aus der Schule ab. In den nächsten drei Monaten klammerte ich mich an die Hoffnung, dass Maria zu Hause glücklich war und wieder gesund werden würde. In der Schule wurden indessen die Lebensbedingungen noch schlechter. Mit dem Frühling hatte in Cowan Bridge eine neue Bedrohung Einzug gehalten. Die Schulgebäudelagen in einer bewaldeten Niederung in der Nähe eines Flusses, waren manchmal von dichtem Nebel eingehüllt, der mit seiner Feuchtigkeit in den überfüllten Unterrichtssaal und Schlafsaal kroch und sie zu einer hervorragenden Brutstätte für Typhus machte. Anfang April war beinahe ein Drittel aller Schülerinnen, die ohnehin schon halb verhungert und schwach waren, erkrankt. Ein Arzt wurde herbeigerufen. Er tadelte die Zubereitung des Essens aufs Heftigste, und die Köchin wurde entlassen. Zehn weitere Mädchen verließen die Schule in äußerst geschwächtem Gesundheitszustand. Ich erfuhr, dass sechs von ihnen bald nach ihrer Heimkehr gestorben waren.
Emily und ich waren dem Typhus bisher entgangen, Elizabeth jedoch nicht. Man verlegte sie in die überfüllte Krankenstube, wo ich sie bei jeder Gelegenheit besuchte.
In der zweiten Maiwoche wurden Emily und ich zu einem privaten Gespräch mit Miss Evans in ihr Studierzimmer gebeten. Ich erinnere mich bis heute, was sie damals trug; ein wunderschönes Kleid aus dunkelvioletter Seide mit einem schwarzen Spitzenkragen und ein schwarzes Band um den Hals.
»Mädchen«, sagte Miss Evans mit feierlicher Stimme, »ich habe heute von eurem Vater einen Brief erhalten. Es tut mir so leid, euch dies mitteilen zu müssen, aber eure Schwester Maria ist von uns gegangen.«
In jener Nacht weinten Emily und ich uns, eng umschlungen, in den Schlaf. Sollten wir wirklich nie wieder die Stimme unserer lieben Maria hören? Nie wieder ihr freundliches Lächeln sehen
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