Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
wir in den vergangenen fünf Tagen gesehen und erlebt hatten. Obwohl Emily nicht nach London hatte mitfahren wollen, verrieten ihre glänzenden Augen nun, als ich fröhlich unsere Geschichte erzählte (und Anne ab und zu ein Wort dazwischenwarf), wie sehr sie es genoss, unser Erlebnis nachzuvollziehen. Ich erzählte ihr alles, hütete mich nur, zu erwähnen, dass ich Mr. Smith und Mr. Williams unbeabsichtigt auch die Wahrheit über ihre Person enthüllt hatte. Die Wahrheit kam jedoch zwei Wochen später an den Tag, als Emily mir einen Brief von Mr. Williams vorlas, in dem er von meinen »Schwestern« in der Mehrzahl sprach.
»Wie konntest du nur!«, stieß Emily hervor und wedelte mir mit dem gleichen Zorn mit dem Brief vor der Nase herum, den sie mich hatte spüren lassen, als ich ihre Gedichte gelesen hatte. »Ich habe doch mehr als deutlich zu verstehen gegeben, wie ich in dieser Angelegenheit denke.«
»Es tut mir sehr leid«, erwiderte ich beschämt. »Die Worte ›Wir sind drei Schwestern‹ sind mir herausgerutscht, ehe ich nachdenken konnte. Sie taten mir schon leid, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte.«
»Du schreibst sofort an Mr. Williams und erklärst ihm, das von nun an Mr. Ellis Bell es nicht dulden wird, mit einem anderen als seinem Künstlernamen angesprochen zu werden.«
Ich tat, wie sie mich geheißen hatte. Ich bin mir nicht sicher, dass sie mir je verziehen hat.
Sechs Wochen nach meiner Rückkehr aus London ereignete sich ein Zwischenfall, der meine Einstellung zu Mr. Nicholls dramatisch verändern sollte. Alles fing damit an, dass Martha mir die traurige Nachricht überbrachte, dass die Familie Ainley, die den ganzen Sommer über schon von Krankheit geplagt gewesen war, gerade ihren jüngsten Säugling verloren hatte. Es war ein eiskalter, grausamer Monat gewesen, und mein Vater hatte die gesamte vorhergehende Woche mit einer schweren Bronchitis das Bett hüten müssen. Mr. Nicholls hatte Papas sämtliche Pflichten übernommen. Ich wollte den Ainleys einen Beileidsbesuch abstatten. Da Emily niemals solchen Aufgaben nachkam und Anne mit etwas anderem beschäftigt war, beschloss ich, allein zu ihnen zu gehen.
Es war ein heißer Morgen gegen Ende August. Kinder allen Alters liefen draußen vor dem Häuschen der Ainleys umher, als ich mich näherte. Nur die Jüngsten schienen zu spielen, doch auch sie ohne die sonstige Begeisterung. Die Kinder scharten sich auch nicht wie sonst um mich, als ich zur Haustür schritt. Aus dem Hausinneren konnte ich ein leises Gespräch und Weinen vernehmen. Schweren Herzens klopfte ich an. Mr. Ainley, ein großer, robust aussehender Mann mit schütterem, sandfarbenem Haar und einem vorzeitig von Falten zerfurchten Gesicht, öffnete mir.
»Miss Brontë«, sagte er mit einem Nicken, während er sich die rotgeweinten, feuchten Augen mit dem Ärmel abwischteund mich mit einer Handbewegung zum Eintreten aufforderte.
Drinnen in dem dunklen Raum war eine kleine Schar traurig dreinblickender Menschen zusammengekommen, alle trugen Schwarz oder die dunkelsten Kleider, die sie besaßen; viele der Frauen schluchzten. Mrs. Ainley saß in ihrem Schaukelstuhl und weinte leise vor sich hin. Der älteste Sohn, John, der das Hemd trug, das Anne und ich im Vorjahr für ihn genäht hatten, stand über den kleinen Sarg gebeugt, der neben dem Kamin aufgestellt war.
»Ich bedaure zutiefst, dass Sie diesen Verlust erlitten haben, Mr. Ainley«, sagte ich und ging dann zu Mrs. Ainley hinüber. Man brachte einen Stuhl für mich; ich setzte mich hin und ergriff Mrs. Ainleys Hand. »Es tut mir von ganzem Herzen leid, Madam. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es für Sie sein muss, ein Kind in diesem zarten Alter zu verlieren.«
»Unser Albert war so ein braves Kerlchen«, sagte Mrs. Ainley mit brechender Stimme. »Nie hat er uns auch nur einen Tag lang Sorgen bereitet. Und dann hat er vor zwei Tagen Fieber bekommen, und ehe ich es mich versah, war er von uns gegangen.« Sie brach erneut in Tränen aus.
»Der Verlust trifft uns wirklich sehr schwer«, sagte Mr. Ainley, »aber wir müssen uns damit abfinden, denn es war offensichtlich Gottes Wille. Was seither geschehen ist, macht uns aber besonders traurig. Denn Mr. Nicholls weigert sich, ihn zu beerdigen.«
»Er weigert sich, ihn zu beerdigen?«, fragte ich entsetzt. »Wie kann das sein?«
»Mr. Nicholls hat gesagt, weil der Kleine nicht getauft war, ginge es gegen den Willen Gottes und gegen all seine Prinzipien, ihn zu
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