Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
dass Sie ihr etwas vorgemacht und ihr die Ehe versprochen haben und dass Sie sie dann eiskalt fallen gelassen haben, als ihr Vater ihr die Mitgift verweigerte.«
»Das hat sie gesagt?«
»Ja! Was für ein Schuft Sie sind, Mr. Nicholls! Ein elender Schuft! Miss Malones Erzählung hat mich allerdings nicht im Geringsten überrascht, denn auch ich habe ja schon unzählige Male – vor diesem Tag und seither – von Ihnen anhören müssen, welch geringe Meinung Sie von Frauen im Allgemeinen und unverheirateten Frauen im Besonderen hegen. Lassen Sie mich die Erste sein, Sir, die Ihnen mitteilt, dass nicht alle unverheirateten Frauen alte Jungfern auf der Jagd nach einem Ehemann sind, wie tief sich dieses Missverständnis auch immer in Ihr Gehirn und die Gehirne Ihrer Kollegen eingegraben haben mag! Viele von uns sind es recht zufrieden, nichtzu heiraten. Wir würden unsere hochgeschätzte Unabhängigkeit nicht gegen ein Leben in Sklaverei und Knechtschaft bei solchen selbstsüchtigen Narren eintauschen, wie Sie einer sind, ganz gleich, wie elend unser Geschick auch sonst sein mag! Die Tatsache, dass wir uns mit Ihrer engstirnigen Selbstgerechtigkeit in Ihrer Rolle als Hilfspfarrer abfinden müssen, ist schon schlimm genug! Was mich wieder zu meinem ersten Thema, den Ainleys, bringt. Diese Familie besucht regelmäßig die Kirche, Sir! Die Ainleys haben immer so lobend von Ihnen gesprochen – und doch haben Sie die armen Leute in ihrer höchsten Not im Stich gelassen! Wie schwer kann es denn für Sie sein, einige Gebete über dem Grab eines toten Kindes zu sprechen?« Mit diesen Worten rauschte ich davon, ohne auch nur einen Blick zurück, riss die Tür des Pfarrhauses auf und schlug sie mit lautem Knall hinter mir zu.
Ich ging sofort zu meinem Vater hinauf und wollte ihm meine Meinung bezüglich der Notlage der Ainleys sagen. Doch Papa wirkte noch so schwach und kränklich, und sein Husten klang so schrecklich, dass ich es nicht über mich brachte, ihm noch mehr Ungemach zu bereiten.
An jenem Abend schüttete ich meinen Schwestern mein Herz aus. Emily war entsetzt über Mr. Nicholls’ grausame Entscheidung hinsichtlich der Bitte der Ainleys. Anne, stets fromm und geduldig, war hin und her gerissen. Schließlich erklärte sie – trotz aller Argumente, die Emily und ich vorbrachten –, dass Mr. Nicholls lediglich nach der offiziellen Lehre der Kirche handelte und seine Entscheidung richtig und angemessen gewesen sei.
»Du hättest Mr. Nicholls nicht so hart kritisieren dürfen!«
»Ich habe ihm nur meine Meinung gesagt, und das tut mir nicht leid. Ich kann Mr. Nicholls das niemals verzeihen.«
Als ich am nächsten Morgen das Haus verließ und mich auf den Weg ins Dorf machte, sah ich eine kleine Gruppe von Trauernden, die sich am äußersten Ende des Kirchhofs versammelt hatte. Auf den zweiten Blick erkannte ich Mr. und Mrs. Ainley und ihre acht Kinder, dazu noch einige ihrer Nachbarn. Sie standen alle um ein Grab herum. Als einer der Trauernden ein wenig zur Seite trat, bemerkte ich, dass der Geistliche, der die Begräbnisgebete sprach, Mr. Nicholls war.
Mein Herz tat einen kleinen Freudensprung. Offensichtlich hatte mein Gefühlsausbruch vom Vortag seine Wirkung nicht verfehlt. Mr. Nicholls hatte zugehört und meine Worte ernst genommen! Trotz seiner zahlreichen anderen Fehler sprach es sehr für ihn, dass er nicht zu stolz war, einen Irrtum zuzugeben und ihn zu korrigieren. Rasch eilte ich zu der kleinen Gruppe, gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie Mr. Nicholls die letzten Wort über dem Sarg des kleinen Albert sprach. Nachdem er geendet hatte, schaute Mr. Nicholls auf. Als er mich bemerkte, wandte er den Blick ab, und seine Züge verfinsterten sich mit einem bitteren und zornigen Ausdruck, der mich völlig unvorbereitet traf. War all diese Wut gegen mich gerichtet?, fragte ich mich bestürzt.
Ich sprach Mr. und Mrs. Ainley mein Beileid aus. Sie erklärten mir, wie dankbar sie gewesen seien, als Mr. Nicholls früh am Morgen dieses Tages vorbeigekommen war, um ihnen zu sagen, er hätte seine Meinung über die letzte Ruhe ihres Säuglings geändert, wenn sie die Trauergemeinde möglichst klein hielten. Es erwärmte mir das Herz, als ich sah, dass so zumindest ein Teil ihres Leides gelindert war. Ich blickte wieder auf und war entschlossen, Mr. Nicholls’ üble Laune zu ertragen und ihm zu danken, aber er war bereits fortgegangen.
Eine halbe Stunde später verließ ich gerade den Schusterladen,wo mir
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