Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
ein neues Paar Schuhe angemessen worden war, als ich Sylvia Malone traf, die aus dem Postamt kam.
»Guten Tag, Miss Malone«, sagte ich und begrüßte sie freundlich.
»Miss Brontë!« Ein seltsamer Ausdruck huschte über Sylvias Züge, doch sie hatte sich schnell wieder im Griff und kam mit festem Schritt und einem Lächeln auf mich zu. »Wie geht es Ihnen? Es scheint so lange her, dass wir uns zuletzt gesehen haben.«
»Ja, wirklich.« Ich hatte Sylvia nun schon einige Wochen nicht in der Kirche gesehen. Aber sie war eigentlich nie regelmäßig in die Gottesdienste gekommen. »Ich hoffe, Ihnen und Ihrer Familie geht es gut.«
»Ja, danke.« Sylvia erzählte mir dann kurz von verschiedenen Ereignissen, die sich in ihrem Leben seit unserer letzten Begegnung zugetragen hatten, und ich teilte ihr die Neuigkeiten mit, die ich von meiner Familie mitzuteilen bereit war. Ich wollte mich gerade verabschieden, als mir – da mir der Vorfall mit Mr. Nicholls noch lebhaft vor Augen stand – ein Frage in den Sinn kam: »Haben Sie in letzter Zeit von Ihrer Cousine gehört, Miss Bridget? Hat sie einen neuen Verehrer?«
»Ja, wirklich, Miss Brontë. Ich habe erst vor einigen Wochen einen Brief von ihr bekommen. Sie ist anscheinend verlobt.«
»Verlobt? Wie schön. Ich hoffe, es ist ein guter Mann?«
»Das kann ich nicht sagen, da ich ihn noch nicht kennengelernt habe. Aber er hat offensichtlich Geld. Er ist Kaufmann wie mein Onkel, hat sie berichtet. Und Bridget scheint recht glücklich zu sein.«
»Dann bin ich für sie glücklich.«
Sylvia zögerte. »Bridget hat mir in diesem Brief noch etwas anderes berichtet, Miss Brontë. Sie hat gemeint, ich könnte esIhnen erzählen, wenn ich wollte, falls Sie es nicht ohnehin schon wüssten. Aber – es ist ja so lange her, dass Sie es vielleicht schon völlig vergessen haben.«
»Dass ich was vergessen habe?«
»Können Sie sich daran erinnern, wie gehässig meine Cousine über Mr. Nicholls gesprochen hat, als sie vor drei Jahren hier zu Besuch war? Dass er ihr den Hof gemacht und sie dann sitzen gelassen hätte und überhaupt?«
»Daran erinnere ich mich.«
»Nun, es sieht so aus, als hätte Bridget da nicht ganz die Wahrheit gesprochen.«
Ich starrte Sylvia an. »Was meinen Sie damit?«
»Jetzt, da Bridget verlobt ist und bald kirchlich getraut wird, meinte sie, sie müsse ihre Seele von all den Untaten reinigen, die sie in der Vergangenheit begangen hat. Sie sagt, heute würde sie sich schämen, das zuzugeben. Doch das, was sie gegen Mr. Nicholls vorgebracht hat, ist in Wahrheit nicht geschehen.«
»Es ist nicht geschehen?«
»Nein. Mr. Nicholls hat anscheinend rein gar nichts falsch gemacht. Die Einzige, die eine Verfehlung begangen hat, war Bridget selbst. Mr. Nicholls ist wirklich oft bei ihrer Familie zu Gast gewesen, wie sie es gesagt hat, aber er hat ihren Bruder besucht und nicht sie. Und weil er so groß war und so gut aussah und so freundlich war, hat sich Bridget aus der Ferne in ihn verliebt. Eines Tages hat sie ihm ihre Gefühle gestanden, aber er sagte ihr, dass er diese nicht erwiderte. Er machte ihr keinerlei Hoffnung. Das erzürnte sie so sehr, dass sie ihrem Bruder aus Gehässigkeit einige Unwahrheiten über Mr. Nicholls erzählte: Er hätte sich bei ihr unerwünschte Freiheiten herausgenommen – nichts, was gegen die Gesetze verstoßen hätte, weil sie ja damals bereits volljährig war –, aberimmerhin genug, um zu bewirken, dass Mr. Nicholls zu seinem großen Leidwesen für einige Zeit das Trinity College verlassen musste, während er Einspruch gegen diese Anschuldigungen einlegte.«
Ich stand wir angewurzelt da. Wie kann ich erklären, was ich bei diesem Eingeständnis verspürte? Verwunderung! Schrecken! Tiefste Beschämung! Trauer!
»Bridget weiß, dass sie sich damals niederträchtig benommen hat. Es hat ihr später leidgetan, und sie hat alle Anschuldigungen zwei Jahre danach zurückgenommen. Auf das Treffen mit Mr. Nicholls in Keighley war sie natürlich nicht vorbereitet gewesen. Sie fürchtete so sehr, er würde schlecht über sie sprechen. Ich habe aus diesem Grunde wirklich keine gute Meinung von ihr; sie hat mir diese Geschichte erzählt, um mich gegen ihn einzunehmen. Wenn Sie mich fragen, so ist sie widerwärtig, Miss Brontë, und ich müsste mich schämen, mit ihr verwandt zu sein. Aber zum Glück scheint es ja Mr. Nicholls keinen dauerhaften Schaden zugefügt zu haben. Ich war so sicher, dass Sie alles inzwischen längst
Weitere Kostenlose Bücher