Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Zigeuner und die Leute aus den Bergen, denen sie so ähnlich sah, und wie die wilden Kreaturen, die sie so sehr liebte und für die sie sich so einsetzte, hielt sie hartnäckig an ihrer natürlichen Umgebung und ihren instinktiven Reaktionen fest. Sie verhielt sich in ihrer Krankheit, überlegte ich, wie sich ein krankes Tier verhalten würde. Sie zog sich lieber in eine Ecke, in ihr vertrautes Umfeld zurück, um sich dort zu erholen oder auch nicht, anstatt sich von Fremden untersuchen oder mit fremden Methoden behandeln zu lassen. Emily war schon immer ihren eigenen Gesetzen gefolgt, war standhaft geblieben und hatte sich nicht davon abbringen lassen. Sie wollte nicht sterben, aber sie besaß ein abergläubisches Zutrauen zu den Kräften der Natur, und diesen Kräften hatte sie jetzt ihr Leben in die Hände gelegt.
Niemals hatte Emily eine Aufgabe, die vor ihr lag, hinausgezögert, und sie tat das auch jetzt nicht. Sie verging rasch. Sie beeilte sich, von uns zu scheiden. Doch während sie körperlich schwand, wurde sie geistig stärker, als wir sie je erlebt hatten. Tag für Tag, wenn ich mit ansah, welchen Leiden sie trotzig die Stirn bot, betrachtete ich sie voller ängstlicher Bewunderung und Liebe. Ich habe nie wieder dergleichen erlebt, nie wieder ihresgleichen wahrgenommen.
Am Abend des 18. Dezember sah ich, wie Emily aus der warmen Küche in den kalten, feuchten Flur hinausging, um die Hunde zu füttern. Plötzlich geriet sie ins Taumeln, wäre beinahe an die Wand gestoßen, während sie nur mit äußerster Mühe ihre Schürze voller Brot- und Fleischreste festhielt. Anne und ich stießen einen verängstigten Schrei aus und eilten ihr zu Hilfe.
»Es geht mir gut«, versicherte uns Emily und schob uns zur Seite, während sie weiterging, um Flossy und Keeper mit eigenerHand das Abendessen zu reichen. Es war das letzte Mal, dass sie die Tiere fütterte.
Weil der Winter bitterkalt war und Emilys kleines Schlafzimmer keinen Kamin hatte, war sie einige Wochen zuvor in das Zimmer umgezogen, das Branwell unmittelbar nach dem Zwischenfall mit der Kerze aufgegeben hatte. In jener Nacht kam ich an dieser Kammer vorüber und sah Emily, die vor dem Feuer kauerte und es diesmal mit etwas ganz anderem fütterte. Sie legte Blätter von einem dünnen Stapel in die lodernden Flammen.
Neugierig geworden, trat ich ein. Im Kamin war eine dicke Schicht feiner Asche zu sehen. Ich schaute auf die wenigen Seiten, die Emily noch in der Hand hielt, und erkannte darauf Emilys Schrift. Diese letzten Blätter schob sie nun rasch in die Flammen und schürte das Feuer, während sie zusah, wie das Papier aufloderte. »Was verbrennst du da?«, rief ich plötzlich erschreckt.
»Nichts von Wichtigkeit.«
»Wenn es etwas ist, das du geschrieben hast, dann wäre es für mich wichtig. Was ist es?«
»Nur meine alten Gondal-Geschichten und mein Buch.«
»Dein Buch? Nein! Welches Buch?« Verzweifelt versuchte ich, Emily den Schürhaken aus der Hand zu reißen, um das bisschen aus den Flammen zu retten, was noch übrig war. Doch sie hielt das Werkzeug mit verblüffender Kraft fest. Während ich hilflos zuschaute, krümmten sich die letzten Seiten in der Hitze des Feuers und versanken in der Asche des Vergessens. »Welches Buch?«, wiederholte ich leise, obwohl ich die schreckliche Antwort bereits ahnte. »Sicherlich nicht – nicht das Buch, an dem du die letzten beiden Jahre gearbeitet hast?«
»Doch.«
»O Emily!« Dieser Schmerzensschrei entrang sich dentiefsten Tiefen meiner Seele. Tränen schossen mir in die Augen, wenn ich nur daran dachte, welch kostbarer Schatz nun verloren war. Ich sank entkräftet auf ihr Bett. »Du hast es uns nicht einmal lesen lassen, Emily! Es ist schlimm genug für uns, dass du so viele deiner Gondal-Geschichten nicht mit uns geteilt hast – und die sind jetzt fort – fort! Aber dein neues Buch! Warum hast du dein neues Buch verbrannt?«
»Ich war nicht zufrieden damit. Und ich habe gesehen, was die Leute von einem Werk gehalten haben, mit dem ich zufrieden war. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie etwas so Unfertiges und Unvollkommenes eingehend mustern würden, wenn ich tot bin.«
»Emily«, erwiderte ich mit mehr Hoffnung als Überzeugung und wiederholte die angstgepeinigten Worte, die ich einst meiner Schwester Maria gesagt hatte: »Du wirst nicht sterben.«
Emily seufzte und ließ sich auf den Sessel sinken, während der Schürhaken scheppernd auf den Boden fiel. »Ich möchte nicht
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