Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
sterben, aber das hat Gott zu entscheiden.«
Am nächsten Morgen stand ich im Morgengrauen auf und machte mich, mit Umhang und Handschuhen gegen die Kälte geschützt, verzweifelt weinend auf den Weg ins Moorland. Ich suchte in jeder noch so kleinen Mulde und in jedem geschützten Felsspalt nach einem letzten Zweig Heidekraut, den ich Emily bringen könnte. Sie liebte das Moorland so sehr. In ihren Augen blühten in der finstersten Heidelandschaft Blumen, die strahlender leuchteten als jede Rose. Und das Heidekraut war ihr die liebste Pflanze auf Erden. Manchmal hatte sie ganze Tage lang in der Heide gelegen und ihren Tagträumen nachgehangen. Der Anblick der vertrauten Blüte würde ihr Freude bringen, überlegte ich.
Endlich fand ich mit einem Freudenschrei, was ich gesucht hatte: ein kleines, zähes Zweiglein, zwar welk, aber noch zu erkennen. Mit heftig pochendem Herzen rannte ich den ganzen Weg zum Pfarrhaus zurück, denn dieses kleine, unverwüstliche Stückchen Heidekraut schien mir ein Symbol der Hoffnung, des Lebens und eines erneuerten Versprechens. Ich stürzte ins Haus und die Treppe hinauf, wo ich Emily in ihrem Zimmer antraf. Sie war bereits aufgestanden und angekleidet und saß beim Kamin, das lange braune Haar lose um die Schultern hängend. Sie starrte ins Feuer. Der beißende Geruch verbrennenden Horns erfüllte das Zimmer.
»Charlotte«, sagte Emily leise, als ich eintrat. »Mein Kamm liegt da unten. Er ist mir aus der Hand gefallen, und ich war zu schwach, um ihn aufzuheben.«
Bestürzt zog ich rasch den Kamm aus der Glut. Ein großes Stück war bereits verbrannt. Tränen traten mir in die Augen. Dieser beschädigte Kamm schien mir der traurigste, herzzerreißendste Anblick, denn ich je gesehen hatte. Doch ich sagte nur: »Das macht nichts, Emily. Du kannst meinen Kamm haben, wenn du möchtest. Oder, wenn du willst, kaufe ich dir einen neuen.« Dann wischte ich mir die Augen und fügte hinzu: »Schau nur, was ich für dich gefunden habe«, und reichte ihr das Zweiglein Heidekraut.
Zu meiner Bestürzung schaute Emily es nur mit matten, gleichgültigen Augen an und fragte: »Was ist das?«
Ich werde diesen schrecklichen Tag niemals aus meinem Gedächtnis löschen können. Emily wurde zusehends schwächer. Sie verweigerte alle Hilfe, ging mit zögernden Schritten nach unten, wo sie auf dem Sofa saß und unter Aufbietung aller Kräfte ihr Nähzeug zur Hand nahm. Doch ihr Atem wurde so stockend, dass Anne und ich immer größere Besorgnis verspürten. Um ein Uhr flüsterte Emily schließlich:»Wenn ihr den Doktor holen wollt, würde ich ihn jetzt sehen.« Ich schickte nach dem Arzt, und er kam. Doch es war zu spät. Eine Stunde später, während der getreue Keeper neben ihrem Totenbett lag und Anne und ich sie weinend an den Händen hielten, wurde Emily bei vollem Bewusstsein, keuchend und widerwillig aus ihrem glücklichen Leben gerissen.
Emily – das Licht meines Lebens, das nun für immer erloschen war – wurde in der Blüte ihrer Jahre dahingerafft. Sie war erst dreißig Jahre alt.
Emily zu verlieren war, als hätte ich einen Teil meiner selbst verloren. Ihr Tod, besonders so bald nach Branwells Hinscheiden, war ein so furchtbarer Schlag für den gesamten Haushalt, dass wir viele Tage wie benommen und völlig unfähig zu irgendeiner Handlung waren. Keeper hielt Wache vor ihrer Schlafzimmertür und jaulte jämmerlich. Anne, Martha und Tabby saßen in der Küche und weinten. Papa, der vor Gram wie betäubt war, sagte beinahe stündlich zu mir: »Charlotte, du musst standhaft bleiben. Ich werde untergehen, wenn auch du mich im Stich lässt.«
Aber ich ließ ihn im Stich. Ich wurde so krank, dass ich mich eine ganze Woche lang kaum aus dem Bett erheben konnte. Jemand musste stark bleiben, das wusste ich, um die anderen aufzumuntern. Aber mir war rätselhaft, woher diese Kraft kommen sollte.
Sie kam, wie sich herausstellte, von Mr. Nicholls.
Unser Hilfspfarrer war der Erste, der bei uns erschien, um uns sein Beileid auszusprechen, weniger als eine Stunde nach Emilys Tod. In den vergangenen Monaten hatte ich in Mr. Nicholls’ Augen die Sorge und das Mitleid bemerkt, mit denen er den raschen Niedergang meines Bruders und meiner Schwester mit angesehen hatte. Nun stand er uns freundlich,fürsorglich und tüchtig zur Seite, als wir ihn am meisten brauchten. Er bot uns seine Hilfe bei den Vorbereitungen für Emilys Beerdigungsgottesdienst an und schlug vor, ihn auch abzuhalten. Papa war
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