Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
zu sehr vom Gram gebeugt, als dass er eine andere Möglichkeit auch nur hätte in Erwägung ziehen können, und nahm dankbar an.
Am festgesetzten Tag bedeckte ein harscher Dezemberraureif den Boden, und ein scharfer Ostwind wehte bitterkalt über den Kirchhof. Mr. Nicholls und Papa führten unseren kleinen Trauerzug vom Haus zur Kirche. Meine nun so sehr geschrumpfte Familie und ich saßen in unserer Kirchenbank, und Keeper lag zu unseren Füßen, während Mr. Nicholls sich mit seiner starken, klaren irischen Stimme an die recht große Trauergemeinde wandte.
Nachdem er die Beerdigungsgebete gesprochen hatte und Emily in der Familiengruft unter der Kirche zur letzten Ruhe gebettet worden war, versammelten wir uns alle draußen, und unsere Nachbarn harrten trotz der eisigen Temperaturen und des beißenden Windes aus und drückten uns aufrichtig und voller Zuneigung ihr Beileid aus. Als die meisten Dorfbewohner fortgegangen waren, trat ich dankbaren Herzens zu Mr. Nicholls und reichte ihm meine Hand.
»Ich danke Ihnen, Sir, für alles, was Sie für uns getan und über unsere Schwester gesagt haben. Ihre Worte waren mir sehr wichtig, und ich weiß, dass sie auch für meine trauernde Familie ein Trost waren.«
Mr. Nicholls ergriff meine Hand voller Mitgefühl und ließ sie erst nach einigem Zögern wieder los. »Es war mir eine Ehre, das Wenige zu tun, was ich zu tun vermochte. Aber die wahre Stütze Ihrer Familie sind Sie, Miss Brontë. Sie sind ihr Fels und ihre Grundfeste. Und jetzt werden Sie allen ein Trost sein. Ihre Familie hat großes Glück, Sie zu haben.«
»Danke, Mr. Nicholls.« Als ich mich abwandte, um zu meiner trauernden Schwester und meinem gramgebeugten Vater zurückzukehren, brannten mir erneut Tränen in den Augen. Ich gelobte mir, in den kommenden Tagen und Monaten Mr. Nicholls’ Zutrauen zu mir zu rechtfertigen. In dieser Stunde der Verzweiflung glaubte ich jedoch, nicht ohne den Trost einer Freundin weiterleben zu können.
Ich schrieb an Ellen. Sie kam gleich nach Weihnachten und blieb vierzehn Tage. Ich schickte eine Kutsche, die sie in Keighley vom Zug abholen sollte. Kaum war Ellen über die Schwelle getreten, da fielen wir einander schon in die Arme.
»Es tut mir so leid, Charlotte. Ich habe Emily von ganzem Herzen lieb gehabt.«
»Ich weiß.«
»Zumindest können wir dankbar sein, dass ihr Leiden vorüber ist.«
Ich nickte und war nicht imstande, ihr zu antworten.
Ellen war der Gleichmut und der Trost in Person. Die Treue ihres freundlichen Herzens war ein großer Segen für uns. Wenige Tage nach ihrer Ankunft saßen wir mit Anne am Kamin im Esszimmer. Außer unserer Freundschaft brauchten wir nichts weiter, um den letzten Tag des Jahres zu begehen. Ellen hatte sich in Emilys altem Sessel niedergelassen, und der Feuerschein leuchtete auf ihren braunen Locken, während sie an ihrer Stickerei arbeitete. Anne und ich saßen nebeneinander auf dem Sofa und lasen Zeitung. Plötzlich bemerkte ich, wie sich ein kleines Lächeln auf Annes Züge stahl.
»Warum lächelst du, Anne?«, fragte ich.
»Weil ich sehe, dass der
Leeds Intelligencer
eines meiner Gedichte abgedruckt hat«, erwiderte Anne glücklich. Sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, hielt sie erschreckt die Luftan und schaute zu mir hin, entsetzt darüber, was sie gerade verraten hatte.
Ich warf einen Blick in die Zeitung, die Anne in der Hand hielt, und sah, worauf sie sich bezogen hatte. Das Gedicht »Der schmale Pfad«, das Annes Glauben und Gottesliebe ernst und wunderbar zum Ausdruck brachte, war zum ersten Mal im August des gleichen Jahres in
Fraser’s Magazine
unter ihrem Pseudonym Acton Bell erschienen und wurde nun hier erneut abgedruckt. Ehe ich dazu etwas sagen konnte, sah Ellen von ihrer feinen Handarbeit auf und meinte: »Ich wusste gar nicht, dass du Gedichte schreibst, Anne. Ist wirklich eine von deinen Arbeiten da abgedruckt?«
»Ja.«
»Dürfte ich um die Ehre bitten, sie zu lesen?«
Anne schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und nickte wortlos, und ich verstand ihre stumme Aufforderung. Ich erhob mich und sagte. »Das darfst du, Nell. Aber erst habe ich noch ein Geschenk für dich.«
»Ein Geschenk? Warum? Weihnachten ist vorbei, und ich dachte, wir wollten uns keine Geschenke machen.«
»Dies ist kein Weihnachtsgeschenk. Es ist ein Geschenk zur Erinnerung an Emily.« Ich nahm eine Kassette mit Büchern aus dem Regal und reichte sie ihr. Es war die dreibändige Ausgabe
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